Mit einem Hungerstreik hat die feministische Dissidentin Nadezhda Tolokonnikowa auf die Zustände in russischen Straflagern aufmerksam gemacht.
Der fast vier Monate andauernde Hungerstreik des Dissidenten Anatolij Martschenko im Jahr 1986 leitete während der Perestroika das vorläufige Ende politischer Verfolgung in der Sowjetunion ein. Er selbst erlebte seine Freilassung nicht mehr. Eine seiner zahlreichen Haftstrafen verbüßte er in Mordowien, einer Region, die für ihre politischen Straflager berüchtigt war. Anfang der siebziger Jahre sorgte dort eine Protestwelle gegen untragbare Haftbedingungen für Aufruhr.
In Mordowien sitzt nun Nadezhda Tolokonnikowa von der feministischen Punk-Performance-Gruppe Pussy Riot ihre Strafe ab. Sie ist derzeit einer der prominentesten russischen Häftlinge. Anders als ihre Bandkollegin Maria Aljochina, die seit ihrem Haftantritt jede Möglichkeit nutzte, der Öffentlichkeit die Unzulänglichkeiten des russischen Strafvollzugs vor Augen zu führen, verhielt sich Tolokonnikowa auffallend zurückhaltend. Erst am 23. September brach sie ihr Schweigen und trat in den Hungerstreik. In einem offenen Brief schildert sie die Zustände in der »Besserungskolonie 14«. Die Bezeichnung Arbeitserziehungslager wäre zutreffender. Erinnerungen an die siebziger Jahre drängen sich auf.
Seit Monaten müssen, Tolokonnikowa zufolge, die Frauen in ihrer Brigade bis zu 17 Stunden täglich arbeiten, meist an sieben Tagen pro Woche. Freie Sonntage werden immer seltener, an Schlaf ist kaum noch zu denken. Die Häftlinge legen in einer archaischen Nähwerkstatt auf freiwilliger Basis Überstunden ein, so die geltende Sprachregelung. Damit alles seine Ordnung hat, sorgt die Anstaltsleitung für Einwilligungserklärungen aller Insassinnen, die sich angeblich ein paar Rubel dazuverdienen wollen. Das tägliche Pensum an Polizeiuniformen ist kaum zu bewältigen, die Bezahlung miserabel. Tolokonnikowa erhielt für den gesamten Monat Juni umgerechnet weniger als 70 Cent, zuvor erreichte ihr Monatslohn schon mal bis zu zehn Euro. Ausbeutung pur, auch wenn sie im Unterschied zu ihren Mitgefangenen nur acht Stunden pro Tag arbeitet.
An der Freiwilligkeit der erwähnten Maßnahmen darf allein schon deshalb gezweifelt werden, weil der russische Strafvollzug weniger der Rehabilitation Straffälliger als ihrer Disziplinierung auch mit psychologischer und physischer Gewalt dient. Tolokonnikowa weist darauf hin, dass ihr Prominentenstatus, vor allem jedoch die aktive Unterstützung durch Verwandte und der Zugang zu einem kompetenten Rechtsbeistand sie vor gewalttätigen Übergriffen bisher geschützt habe. Zumindest solange sie ihr Schweigen über den Lageralltag nicht gebrochen hatte.
Die Anstaltsleitung vergreift sich nicht selbst an den Häftlingen, sondern hält in der Lagerhierarchie Aufstiegsmöglichkeiten für gefügige Langzeitverurteilte bereit. Wer sich zum Handlanger der Leitung macht, darf zur Belohnung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln für Ordnung sorgen. Eine Roma soll in der Kolonie Nr. 14 in einer Sonderbrigade von anderen Häftlingen zu Tode geprügelt worden sein, einer Frau musste nach stundenlangem erzwungenen Ausharren in großer Kälte ein Bein amputiert werden. Das Verbot des Toilettengangs während der Arbeitszeit und andere Gängeleien gehören zum Alltag.
Wer seine Chance auf vorzeitige Haftentlassung nicht verspielen will, darf sich keinen noch so geringen Ausrutscher leisten. Zum Tabu wurde auch der Kontakt zu Tolokonnikowa erklärt, und sei es nur, um sich ein Buch von ihr auszuleihen. Widerstand gegen die Verhältnisse sei zwecklos, wird den Häftlingen eingetrichtert. Ein perfides System aus Druck, Isolation von Gefangenen und Unterbindung von Beschwerden sorgt für Stillschweigen. Kündigt sich eine Aufsichtskommission an, wird in Windeseile ein Potemkinsches Dorf errichtet und weniger gearbeitet.
Nach einer ersten, im Frühjahr eingelegten Rechtsbeschwerde eines der Anwälte Tolokonnikowas gegen die Haftbedingungen in der Kolonie sah die Inhaftierte sich zum Widerruf gezwungen. Dieses Mal blieb sie konsequent. Wegen ihres sich verschlechternden Gesundheitszustands wurde sie in ein Lagerlazarett verlegt und bereits nach einer Woche Hungerstreik entschieden die Ärzte über eine Ernährungszufuhr und spezielle Diät. Ihre Anwältin beklagt nun, der Kontakt zu ihrer Mandantin sei vorerst abgebrochen.
Gleich zu Beginn hagelte es Kritik an der Hungerstreikaktion. Geltungsbedürfnis und die Durchsetzung von Sonderhaftbedingungen für sich selbst seien das eigentliche Motiv, nicht die Intention, allen Häftlingen erträglichere Haftbedingungen zu verschaffen. Gleichgültigkeit, Unverständnis und Aussichtslosigkeit, aber auch Angst hielten andere Insassinnen von offenen Solidaritätsbekundungen ab. Eine Delegation des russischen Menschenrechtsrats bestätigte derweil im Wesentlichen die beschriebenen Zustände.
Längst nicht alle Strafkolonien gleichen der Nr. 14 bis ins Detail, doch wesentliche Züge finden sich bei vielen von ihnen wieder. Zu Hungerstreiks und Aufständen in Haftanstalten für männliche Gefangene kommt es recht häufig, öffentliches Interesse wecken sie jedoch nur in spektakulären Fällen. Im November vorigen Jahres forderten in Kopejsk 250 Häftlinge während der Besetzung eines Wachturms Hafterleichterungen und prangerten die gängige Gelderpressung durch Justizmitarbeiter an.
Die Probleme im Strafvollzug sind ausreichend bekannt und etliche Einzelfälle dokumentiert, darunter auch Misshandlungen und Folter. Seit drei Jahren ist die Arbeit unabhängiger Aufsichtskommissionen gesetzlich geregelt und deren Mitglieder erhalten im Regelfall Zugang zu den insgesamt etwa 900 Strafkolonien und Gefängnissen. In Russland sitzen derzeit knapp 700 000 Menschen eine Haftstrafe ab, weitere 113 000 warten in der Untersuchungshaft auf ihr Urteil. Seit 2010 sank die Zahl der Häftlinge um etwa 100 000, die der Untersuchungshäftlinge nahm während der Amtszeit von Präsident Dmitrij Medwedjew im Schnitt um etwa 10 000 pro Jahr ab. 2012 stieg sie dann wieder an. Zwar erfolgten weniger Festnahmen, dafür stimmten die Gerichte häufiger einer Verlängerung der Untersuchungshaft zu.
Die Führungsposition in Europa hinsichtlich der Anzahl der zu einer lebenslänglichen Haftstrafe Verurteilten hat Russland inzwischen an die Ukraine verloren, auch sind die Chancen auf einen Freispruch vor einem ukrainischen Gericht noch schlechter als vor einem russischen. In beiden Ländern liegt die Quote bei unter einem Prozent. Wer einmal in die Mühlen der russischen Justiz gerät, kommt nur in Ausnahmefällen ungeschoren davon. Formal betrachtet sind die Gerichte zwar unabhängig, sie ordnen sich jedoch der fatalen Logik unter, einen etwaigen Verdacht auf Behinderung der Verbrechensbekämpfung um keinen Preis aufkommen zu lassen. Ein Angeklagter macht sich schon dadurch verdächtig, dass er ins Visier der Strafverfolgungsbehörden geraten ist. An deren Arbeitsweise haben die Gerichte meist nichts auszusetzen, auch wenn sie noch so dürftige Schuldbeweise liefern. Schließlich kann ein Freispruch einen Richter die Karriere kosten. Milde walten lässt gelegentlich allein Präsident Wladimir Putin, der Häftlinge begnadigen kann. Für den 20. Jahrestag der russischen Verfassung im Dezember stellte er eine Amnestie in Aussicht. Darüber darf vorher aber noch das Parlament abstimmen.
Ute Weinmann