Von Aufgeben keine Spur

Während sich die parlamentarische Opposition in der Ukraine kompromissbereit zeigt, radikalisieren sich die Proteste.

Von Aufgeben keine Spur. Am 9. Februar fand in Kiew die mittlerweile zehnte sogenannte „Narodnoje Wetsche“ statt. Seit Beginn der Proteste im November kommen OppositionsanhängerInnen fast jeden Sonntag zur Vollversammlung auf dem Maidan zusammen. An den anderen Tagen hält sich die Aufmerksamkeit für die von der Tribüne geschwungenen Reden für gewöhnlich in Grenzen, denn gehaltvoll sind sie selten. Die „Wetsche“ gilt jedoch als verbindendes Element, zumindest für jene, die sich in den dort formulierten Positionen wiederfinden. Vor über zehntausend ZuhörerInnen traten Vertreter aller in der Ukraine vertretenen Konfessionen auf, die Sängerin Ruslana, die 2004 auf dem Eurovision Song Contest der Ukraine einen Sieg beschert hatte, die regierungskritische Journalistin Tatjana Tschornowol, auf die im Dezember ein gewalttätiger Übergriff verübt wurde, und natürlich führende Oppositionspolitiker aus dem liberalen Lager wie Arsenij Jatsenjuk, Vitalij Klitschko und der Vorsitzende der rechten Freiheitspartei „Swoboda“ Oleg Tjagnybok.

Seit Ende Januar herrscht zwischen Regierung und Opposition offiziell Waffenstillstand. Nach eine Woche andauernden Straßenschlachten in Kiew und zahlreichen Besetzungen von Regierungsgebäuden in der Hauptstadt, aber auch in den Regionen, wo aus den Protesten heraus mittlerweile etwa zwanzig alternative Gebietsregierungen entstanden sind, zeigte die ukrainische Führung erstmals einen Funken von Kompromissbereitschaft. Präsident Viktor Janukowitsch nahm einen Teil jener repressiven und die Proteste kriminalisierenden Gesetze zurück, die zur Eskalation geführt hatten und löste sein Kabinett auf. Als Chef der Übergangsregierung setzte er den aus Donetsk stammenden ehemaligen Vize-Premierminister Sergej Arbuzow ein, nachdem er zuvor dem Fraktionschef der Vaterlandspartei „Batkiwschtschina“ Arsenij Jatsenjuk den Vorschlag unterbreitet hatte, diesen Posten zu übernehmen. Den oppositionellen Unterhändlern Jatsenjuk und Klitschko ging dieses Entgegenkommen jedoch nicht weit genug. Überdies soll eine Amnestie für die Straffreiheit der meisten während der Zusammenstöße mit den Polizeisondereinheiten Berkut festgenommenen Oppositionellen sorgen, allerdings knüpft sich daran die Bedingung innerhalb von zwei Wochen alle besetzten Gebäude zu räumen. Diese Frist läuft nun ab.

Viel neues gab es bei der Wetsche nicht zu hören. Klitschko äußerte zum wiederholten Male seinen Wunsch nach einem Generalstreik, den durchzuführen derzeit jedoch niemand in der Lage ist. Am 13. Februar ruft er die Bevölkerung dazu auf für eine Stunde auf die Straße zu gehen unter dem Motto „Hab keine Angst!“. Jatsenjuk schlug indes wesentlich gemäßigtere Töne an und demonstrierte seine Bereitschaft auf den Vorschlag des Präsidenten einzugehen. Allerdings will er seinen Meinungswandel nicht als Schritt aus freiem Willen interpretiert sehen. Vielmehr schiebt er als Grund vor, dass die Europäische Union und die USA an ihr in Aussicht gestelltes Hilfspaket als Bedingung die Schaffung einer neuen Regierung knüpfen. Diese soll, so Jatsenjuk, durch den Maidan sanktioniert werden.

Bereits Anfang Februar hatte die inhaftierte Ex-Premierministerin Julia Timoschenko bei einem Treffen mit dem Chef der Präsidialverwaltung Andrej Kljujew diesem Szenario angeblich zugestimmt. Neben einer Verfassungsänderung steht auch die Freilassung von Timoschenko auf dem Programm. Batkiwschtschinas Vorschläge sehen im Wesentlichen eine Rückkehr zu Verfassung von 2004 vor. Demnach soll die Rolle des Parlaments gestärkt und die des Präsidenten stark beschnitten werden. Eine Neuerung wäre die Erleichterung eines Amtsenthebungsverfahrens mit nur 150 Abgeordnetenstimmen, also mit lediglich einem Drittel. Mit dem amtierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch ist diese Forderung allerdings ebenso wenig durchsetzbar wie mit Klitschko, der auf den Präsidentenposten abzielt.

Das eifrige Kompromissbestreben der parlamentarischen Oppositionsführung läuft dem gegenwärtigen Trend bei den Protestierenden allerdings zuwider. Dort findet zusehends eine Radikalisierung statt. Stellvertretend für die Stimmung auf dem Maidan stehen die Forderungen der ersten kürzlich vereidigten sogenannten Hundertschaft, die ausschließlich aus Frauen besteht. Neben der Freilassung aller politisch Verfolgten bestehen sie auf der Einstellung jeglicher Verhandlungen mit der amtierenden Regierung und fordern unverzügliche Neuwahlen von Parlament und Präsidenten unter Ausschluss aller Angehörigen der jetzigen StaatsvertreterInnen. Umfragen belegen diese Tendenz. Kiewer SoziologInnen kamen zu dem Schluss, dass derzeit 63 Prozent der Protestierenden auf dem Maidan Gespräche mit der Regierung ablehnen. Über 80 Prozent sprechen sich gegen jegliche Kompromisslösungen aus, während gerade mal 11 Prozent sich auch mit der Einlösungen einiger grundlegender Forderungen zufrieden stellen würden. „Die Bande muss weg!“ hat sich als Slogan durchgesetzt. Mit Janukowitsch und seiner Familie, allen voran sein Sohn Alexander, der nach Einschätzung von Forbes sein Vermögen allein im zweiten Halbjahr 2013 verdreifachen konnte, will sich im Protestlager kaum mehr jemand arrangieren.

Auf dem Maidan hat sich nach den vielen Wochen der Besetzung eine gewisse Routine eingespielt. Die Aufrechterhaltung der dortigen Infrastruktur kostet zwar einige Anstrengungen, funktioniert jedoch fast vorbildhaft. Zahlreiche UnterstützerInnen liefern regelmäßig Brennholz, Benzin und Nahrungsmittel. Im eigens aufgebauten viele Stunden pro Tag sendenden BürgerInnen-TV wechseln sich Studiogespräche mit Aufnahmen von der „Front“ ab. Der Stab hat sich im Gewerkschaftshaus eingerichtet und will dort vorerst bleiben. Und der Wachschutz läuft angesichts der hohen Beteiligung ehemaliger Afghanistankämpfer und Angehöriger diverser Sondereinheiten ohnehin auf professionellem Niveau. Das erklärt auch den allgegenwärtigen militaristischen Sprachgebrauch.

Allein die Erkenntnis, dem verhassten Regime Zugeständnisse abtrotzen zu können stärkt das Selbstvertrauen und die Entschlossenheit weitere Veränderungen durchzusetzen ungemein. Doch Zufriedenheit über das eigene Durchhaltevermögen wechseln sich auf dem Maidan mit Schreckensmeldungen über gezielte Vergeltungsakte. So tauchte einer der Anführer des sogenannten Automaidans Dmitrij Bulatow erst eine Woche nach seinem Verschwinden mit zahlreichen Schnittwunden entstellt unweit von Kiew auf. Ziel der Entführung war offenbar in Erfahrung zu bringen, aus welchen Quellen die oppositionellen AutofahrerInnen, die für etliche Straßenblockaden gesorgt hatten, finanzielle Unterstützung beziehen. Nach Angaben des „Euromaidan SOS“, einer selbstorganisierten Gruppe, die Vermisstenmeldungen nachgehen, sind seit Beginn der Eskalierung am 19. Januar insgesamt 36 Menschen spurlos verschwunden, darunter auch Minderjährige. Im Gewerkschaftshaus explodierte neulich ein Sprengsatz, zwei Verletzte mussten ärztlich behandelt werden. Auch wer bei der Zulieferung von Brennholz oder Aktionen des Automaidan von der Polizei gestellt wurde muss mit Konsequenzen rechnen. „Euromaidan SOS“ meldet in Kiew zahlreiche Fälle von Brandstiftungen, bei denen Autos von aktiven AnhängerInnen des Maidan zerstört wurden. Wirklich sicher vor Polizeigewalt und zahlreichen Provokateuren in Zivil fühlen sich viele Protestierende, die allein schon am typischen durch Lagerfeuer auf dem Maidan verursachten Brandgeruch ihrer Kleidung zu erkennen sind, nur noch auf dem gut bewachten Maidan.

Das Ausmaß an Gewalt während der Eskalation im Januar, bei der mehrere Menschen ums Leben kamen und weit über Tausend Menschen teils schwere Verletzungen davon getragen hatten, schockiert viele immer noch. Gleichzeitig lässt sich nicht abstreiten, dass sich die ukrainische Führung erst als Konsequenz aus den Ausschreitungen wenigstens in Ansätzen auf die Forderungen der Opposition einließ. Aus diesem Umstand versucht der „Rechte Sektor“ politisches Kapital zu schlagen, einem Zusammenschluss diverser nationalistischer und faschistoider Gruppierungen wie dem Tryzub, UNA-UNSO oder Sozial-nationalistischen Versammlung. Auf sein Konto ging die militante Vorgehensweise gegen Berkut im Regierungsviertel, an der sich auch andere Oppositionsangehörige aktiv beteiligten. Dmitrij Jarosch, Anführer von Tryzub und des „Rechten Sektor“ übernahm dafür die Verantwortung und bestätigte während einer Pressekonferenz, dass alle Aktionen mit dem Kommandanten des Maidan Andrej Parubij abgesprochen gewesen seien. Nach Beendigung der gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Berkut forderte der „Rechte Sektor“, der sich europakritisch gibt, für eine „nationale Revolution“ steht und u.a. eine Legalisierung paramilitärischer Verbände durchsetzen will, die Anerkennung als dritte Partei bei Gesprächen von Opposition und Regierung. Am 10. Februar schließlich rief der „Rechte Sektor“ alle patriotisch gesinnten Kräfte zu einer erneuten Blockade des Regierungsviertels auf.

Es hat den Anschein, dass zumindest Teile der demokratischen Oppositionsführung die radikale Rechte als Druckmittel auf Janukowitsch bereithalten für den Fall, dass weitere Verhandlungen mit der Regierung keine Ergebnisse zeigen. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern der „Rechte Sektor“ als eigenständige Kraft agiert und welche Auswirkungen dessen Rolle als militante Scharfmacher auf der Straße auf dessen politische Gewichtung im gesamten oppositionellen Spektrum nach sich zieht.

Doch auch innerhalb der ukrainischen Rechten gilt es Konkurrenzverhältnisse Rechnung zu tragen. Swoboda versorgte nach eigenen Angaben den „Rechten Sektor“ mit Helmen und leistete juristischen Beistand, doch agieren die Partei und der paramilitärische Zusammenschluss nicht als Einheit. Derzeit jedenfalls stehen die Zeichen für eigenständige politische Ambitionen der westukrainischen Nationalisten günstig. Das bedeutet auch, einen salonfähige Sprachgebrauch zu pflegen. So widersprach der Pressesprecher des „Rechten Sektor“ Artjom Skoropatskij jüngst Vorwürfen, es handele sich um ein Bündnis von „Faschisten, Nazis und Rassisten“. Dem sei nicht so. Vielmehr seien sie „erstens Christen und zweitens Antikommunisten“, die außerdem gegen Rassismus, Antisemitismus, NS-Ideologie und Faschismus eintreten. Eben Nachfolger der „Organisation ukrainischer Nationalisten“.

 

Ute Weinmann

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