In Kampfbereitschaft

Die ukrainische Armee geht gegen die prorussischen Separatisten vor. Während die Beteiligten sich gegenseitig der Gewalt beschuldigen und von Deeskalation reden, schreitet die Destabilisierung der Ukraine voran.

Geiseln, Dutzende Tote und ein potentieller Bürgerkrieg: Die vorläufige Bilanz der jüngsten Es­kalation verheißt für den Osten der Ukraine nichts Gutes. Sogenannte Volksrepubliken und ihre selbsternannten Anführer, die ukrainische Übergangsregierung und nicht zuletzt die russische Führung nehmen für sich die Rolle von Friedensbringern und Deeskalationsspezialisten in Anspruch. Vorrang genießt derzeit allerdings der Antiterrorkampf ukrainischer Spezialeinheiten, der im Kreml-Jargon kurz und knapp »Strafexpedition« genannt wird. In der Bevölkerung, die von russischen und ukrainischen Fernsehkanälen vollkommen widersprüchliche Informationen erhält, wird die Verunsicherung immer größer.

In den vergangenen Wochen musste das ukrainische Militär herbe Niederlagen einstecken. Nun schlagen die Armee und die neu formierte Nationalgarde zurück. Am 2. Mai begann die Ukraine im Donezker Gebiet eine Militäroffensive gegen separatistische Gruppierungen, dabei wurden drei Hubschrauber abgeschossen, es gab Tote auf beiden Seiten. Proukrainische Quellen verbreiteten die Nachricht, dass in Kramatorsk unbewaffnete Bewohner mit Geldzahlungen gelockt worden seien, sich als Schutzschild gegen ukrainische Truppen aufzustellen. Den ukrainischen Sondereinheiten gelang es, zum Wochenende die Kontrolle über Kramatorsk zu gewinnen, um anschließend die Separatistenhochburg Slawjansk zu umzingeln. Allerdings eroberten die bewaffneten Einheiten der Selbstverteidigung des Donbass in der Nacht auf Sonntag dort und an einigen anderen Orten ihre Stellungen zurück.

Slawjansk hatte sich zudem als Zentrum für Geiselnahmen zweifelhafte Prominenz erlang. Im Keller des von der »Volksrepublik« besetzten ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU waren unter anderem auch die Angehörigen einer Delegation der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) untergebracht. Zu den mindestens 50 Geiseln gehörten jedoch auch Journalisten und Milizionäre, deren Freilassung, so die Forderung der prorussischen Geiselnehmer, im Tausch gegen inhaftierte Mitstreiter erfolgen sollte.

Längst nicht alle der zum Teil spurlos verschwundenen Personen sind mit ihrem Leben davon ­gekommen. Wladimir Rybak, ein Stadtrat aus Gorlowka, pensionierter Kriminalbeamter und of­fener Widersacher der »Donezker Volksrepublik«, war Mitte April auf offener Straße gekidnappt worden. Davon existieren sogar Videoaufnahmen. Wenige Tage später tauchte seine Leiche in einem Fluss unweit von Slawjansk auf, die Folterspuren am Körper waren nicht zu übersehen. Allerdings gibt es bislang keine Hinweise auf die Täter und es lässt sich nicht ausschließen, dass sich jemand zur Begleichung einer persönlichen Rechnung das derzeitige Machtvakuum zunutze gemacht hat.

Russland blieb nach wiederholten Bitten aus den westlichen Staaten, seine Autorität in der Geiselfrage geltend zu machen, nicht untätig. Am Samstag erfolgte die Übergabe der OSZE-Mitarbeiter und deren ebenfalls als Geiseln gehaltene Begleiter vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU an den russischen Sonderbeauftragten und ehemaligen langjährigen Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Lukin. Eine perfekte Inszenierung der russischen Deeskalationsmission, die der SBU als eine durch den russischen militä­rischen Geheimdienst (GRU) geplante und von Ser­gej Zdryljuk – einem ukrainisch-russischen Staatsbürger mit dem deutschen Spitznahmen »Abwehr« – geleitete Aktion enttarnt haben will. Eindeutige Beweise blieb die Behörde jedoch bislang schuldig. Selbiges gilt für Behauptungen der russischen Führung, die im Staatsfernsehen ohne jede Gegenrede verbreitet werden, wonach überall wahlweise Spuren des rechtsextremen ukrainischen Zusammenschlusses Rechter Sektor oder aber nicht näher benannter englischsprachiger Söldner auszumachen seien. Auf gutes Timing sind die russischen Strategen wohl bedacht. Zwei Tage bevor der ukrainische Interimspräsident Alexander Turtschinow mitteilte, die Armee befinde sich in voller Kampfbereitschaft, erklärte der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu das Militärmanöver an der ukrainischen Grenze für beendet.

Die Unruhen weiteten sich indes Richtung Süden aus. Am Freitag kamen in Odessa bei einem Angriff während einer proukrainischen Demonstration, an der unter anderem auch Ultras des lokalen Fußballvereins Tschernomorez teilgenommen hatten, vier Menschen ums Leben, einer davon durch einen Lungenschuss. Die zahlenmäßig überlegenen Demonstrationsteilnehmer, allen voran die Selbstverteidigungsgruppen des Maidan, gingen daraufhin zum Gegenangriff über und setzten ein Zeltlager der Angreifer in Brand. Derweil verbarrikadierten sich die Maidan-Gegner im lokalen Gewerkschaftshaus, wo an mehreren Stellen Feuer gelegt wurde. 46 Menschen starben, darunter auch ein Gebietsabgeordneter der Partei der Regionen und ein Mitglied der kommunistischen Gruppierung Borotba. Augenzeugenberichten und mehreren Videoaufnahmen zufolge flogen von der Straße Molotow-Cocktails in die unteren Etagen. Auf dem Dach hatten sich einige Dutzend Unbekannter versammelt, von wo aus Schüsse auf die lokalen Maidan-Anhänger vor dem Gebäude abgefeuert wurden. Russische Medien machen unisono den Rechten Sektor für den Brand verantwortlich.

Der ukrainische Militärexperte Dmitrij Tymtschuk stellt hingegen die Tragödie von Odessa in direkten Zusammenhang mit einer von Russland gesteuerten Provokation: »Von Anfang März bis Ende April 2014 haben wir das Eintreffen von Einheiten der GRU, Kosakenverbände und Vertreter russischer ultrarechter Organisationen auf das Gebiet von Transnistrien festgestellt«, schreibt Tymtschuk auf Facebook. Über Moldawien seien aus Russland zudem sportlich aussehende junge Leute in Begleitung von Angehörigen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB nach Transnistrien eingereist. Demnach befanden sich dort Anfang Mai etwa 1 700 russische Militärangehörige, davon 800 dem GRU unterstellt, und an die 2 200 vom FSB koordinierte Kosaken und Rechte. Odessa liegt von dort nur einen Katzensprung entfernt. Eigentlich sei erst für den Tag des Sieges am 9. Mai eine Intensivierung der Destabilisierungstaktik in der Region zu erwarten gewesen mit dem Ziel, die prorussisch eingestellte Bevölkerung aktiv einzubeziehen, zuerst in Odessa, nach ersten Erfolgen dann auch in Nikolajewsk und Cherson. Doch aufgrund der ukrainischen Militäroperation in Slawjansk habe sich die russische Führung zu einem früheren Eingreifen durchgerungen, um die Verlegung von Armeeeinheiten aus dem Osten in weiter westlich gelegene Gebiete herbeizuführen.

Langfristig mag Russland aus der Destabilisierung der Ukraine keinen Profit ziehen, kurzfristig jedoch zahlt sich die Eskalation aus. In den offiziellen Gebietsadministrationen im Donezker Gebiet heißt es derweil, der Apparat der »Volksrepublik« werde nicht aus Russland bezahlt, sondern vom ehemaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Bei dem Deal verdiene der FSB als Mittler kräftig mit. Zudem bieten die angestammten kriminellen Autoritäten, die im Donbass schon immer eine große Rolle gespielt haben, prorussischen Kräften eine zuverlässige Stütze. Was die Beteiligung überzeugter Anhänger einer Annäherung an Russland an der Eskalation keineswegs ausschließt.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2014/19/49812.html

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