Vier Jahre und sechs Monate Haft. Diese Strafe verhängte gestern das Moskauer Stadtgericht für den vermeintlich für sogenannte Massenunruhen am 6. Mai 2012 verantwortlichen Politiker Sergej Udaltsow und den ebenfalls in der Linksfront aktiven Leonid Razwozzhajew. Damit geht ein langwieriger und wenig spektakulärer Prozess zu Ende, der faktisch zur Auflösung jenes Teils der russischen Linken geführt hat, der sich in einem breiten Bündnis für faire Wahlen einsetzte.
Erst am späten Abend erfolgte nach stundenlanger Verlesung die Urteilsverkündung. Alle Anwesenden mussten stehen, etliche Unterstützer der Angeklagten ließ Richter Alexander Zamaschnjuk aus dem Verhandlungsraum entfernen, darunter auch eine ältere Frau, die, mit Verweis auf eine Behinderung, auf ihrer Bank sitzen blieb. Invaliden hätten im Saal nichts zu suchen, so der Richter. Er hielt die Schuld von Udaltsow und Razwozzajew für erwiesen an. Beide seien verantwortlich für die Vorbereitung gewalttätiger Massenunruhen. Letzter muss zudem ein Bussgeld in Höhe von knapp 3200 Euro zahlen, da er laut Angaben der Ermittler die Grenze zur Ukraine illegal mit dem Pass seines Bruders überquert habe.
Die Umstände der Rückkehr Razwozzhajews aus der Ukraine hielt das Gericht indes nicht für erwähnenswert, dabei hebt diese Episode die zweifelhaften Ermittlungsmethoden der russischen Behörden besonders hervor. Bei dem Versuch in der Ukraine Asyl zu beantragen wurde Razwozzhajew entführt und über die russische Grenze verschleppt. Unter massivem Druck gab dieser ein Schuldgeständnis ab, was er vor Gericht jedoch widerrief. Richter Zamaschnjuk nahm diesen Umstand jedoch gar nicht erst zur Kenntnis und hob stattdessen positiv hervor, dass der Angeklagte eigenständig in seine Heimat zurückgekehrt sei, schließlich sei er ein Patriot.
Über die Gründe, weshalb das Gericht in seinem Urteil weit unter den von der Staatsanwaltschaft geforderten acht Jahre Freiheitsentzug blieb, lässt sich nur spekulieren. Es liegt nahe, nach einer politisch motivierten Erklärung zu suchen. Man sollte meinen, dass die als Verantwortliche für schuldig befundenen Oppositionellen mit einer höheren Haftstrafe belegt werden als reguläre Teilnehmer der mit Ausschreitungen endenden Protestkundgebung gegen die Wiedereinführung von Wladimir Putin ins Präsidentenamt nach den letzten Wahlen von 2012. Seither haben bereits mehrere Prozesse stattgefunden. Der erste Angeklagte, Maxim Luzjanin, wurde trotz eines Schuldgeständnisses ebenfalls zu viereinhalb Jahren verurteilt.
Mit der ersten Verurteilung schaffte das Gericht Fakten, denn somit entstand die Grundlage für die Anklage wegen „Massenunruhen“, obgleich der entsprechende Strafparagraf eine völlig andere Definition vorsieht als die von den Ermittlern präsentierte Beweislage untermauern konnte. Im Weiteren nahmen die Gerichte dann jeweils auf das erste Urteil Bezug, ohne sich mit dem Kern der Anschuldigung weiter auseinandersetzen zu müssen. Aber das war im November 2012, als der Protest der russischen Opposition zwar weitgehend abgeklungen war, aber immerhin noch einige Großkundgebungen und Demonstrationen stattfanden. Mit der Zeit – nicht zuletzt aufgrund massiver Verfolgungen – nahmen die Aktivitäten im oppositionellen Spektrum allerdings immer weiter ab. Zudem veränderten sich zunehmend die äußeren politischen Voraussetzungen, weshalb Protestaktionen, beispielsweise durch verschärfte gesetzliche Rahmenbedingungen, für die Beteiligten mit zunehmenden Risiken belegt waren und sind.
Mit Blick auf die Ukraine musste die russische Führung im Winter aufgrund einer nicht auszuschließenden Wiederholung des Kiewer Maidan in Moskau bangen. Doch diese Befürchtung erwies sich letztlich als unbegründet. Auch hatten die bisherigen Bolotnaja-Prozesse, die ihren Namen durch den Austragungsort der Protestkundgebung vom 6. Mai 2012 erhalten haben, ihre Aufgabe letztlich bereits erledigt. Eine auf Bewährung ausgesetzte Haftstrafe, ein Amnestie gegen einige Angeklagte nach einem lange und kräftezehrenden Prozess, zeitweilige Zwangspsychiatrisierung eines Protestteilnehmers und Haftstrafen zwischen zweieinhalb und viereinhalb Jahren gingen dem gestrigen Urteil gegen die Aktivsten der Linksfront voraus.
Auch wenn sich in der Öffentlichkeit kaum mehr Interesse für die Verfolgung jener regt, die vor zwei Jahren ihrer Missbilligung der Politik des Kremls Luft verschafften, warten die Strafverfolgungsbehörden weiterhin mit latenten Drohungen auf. Im Frühjahr erfolgten erneute Verhöre und eine Festnahme, der Ermittlungszeitrum im Bolotnaja-Fall wurde vorerst auf November verlängert. Für August wird das Urteil in einem Prozess gegen weitere vier Angeklagte erwartet, darunter auch gegen den Antifaschisten Aleksej Gaskarow. Gelangweilte Staatsanwältinnen und eine Angeklagte und Zeugen disziplinierende, aber an Aufklärung nur bedingt interessierte Richterin lassen den Eindruck entstehen, dass das Strafmass bereits feststeht und sich vermutlich an den bereits gefällten Urteilen orientiert, wie sehr sich die Verteidigung auch abmüht, ihre Mandanten zu entlasten. Eine internationale Solidaritätswelle hat der Bolotnaja-Prozess, anders als für die Frauen von Pussy Riot, nicht ausgelöst. Zwar unterliegen ihre Handlungsoptionen in Russland ebenfalls starken Beschränkungen, sie aber können sich immerhin ihrer Bewegungsfreiheit erfreuen.
Ute Weinmann