Die russischen Ermittler haben zwar mutmaßliche Täter benannt, aber aufgeklärt ist der Mord an Boris Nemzow nicht.
Ist von einer »tschetschenischen Spur« die Rede, fühlt man sich unweigerlich zurückversetzt in die Anfänge der Amtszeit Wladimir Putins als russischer Präsident. Damals schien es allen Grund zu geben, Tschetschenen für etliche Terrorakte verantwortlich zu machen, bei denen Hunderte von Menschen ums Leben kamen. Schließlich führte das russische Militär gegen die kleine Kaukasus-Republik Krieg. Zweifel, ob die Drahtzieher bei so manchem Anschlag wirklich von dort stammten, blieben jedoch bestehen. Dafür brachte die jahrelang andauernde kriegerische Sonderoperation Putin politische Dividende ein, ja sie legte den Grundstein für seine praktisch unangefochtene Machtposition.
Doch dann war Tschetschenien offiziell befriedet, die Ukraine hat den Kaukasus als Feinbild längst abgelöst. Nun haben sich die Zeiten geändert. Sind Tschetschenen in politisch relevante Straftaten involviert, spricht das weniger dafür, dass die Regierung alles unter Kontrolle hält, als für zutage tretende Risse im Machtsystem.
Eine Woche nach dem Mord an dem russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow standen für die ermittelnden Behörden die Schuldigen fest. Die Spur führt nach deren Angaben nach Tschetschenien. Fünf Verdächtige sitzen in Untersuchungshaft, aber selbst wenn es sich tatsächlich um die Täter handeln sollte, stellen sich Fragen hinsichtlich des Motivs und der Hintergründe.
Angesichts der Arbeitsweise der russischen Ermittlungsbehörden sind grundsätzlich Misstrauen und Vorsicht geboten. Es hieß, es gebe keine Hintermänner – eine Version, die der politischen Führung in die Hände spielt, hatte doch Putin gefordert, diese »Schande«, die ein Mordfall wie dieser für Russland darstelle, mit höchster Priorität zu behandeln und schnell aus der Welt zu räumen. Der Mord sei allein aus Empörung über Nemzows Solidarisierung mit der französischen satirischen Wochenzeitschrift Charlie Hebdo nach dem Terroranschlag in Paris begangen worden. Zwischenzeitlich kam die These von einem Auftragsmord hinzu, aber in der Anklageschrift ist von einem politischen beziehungsweise religiösen Tatmotiv die Rede.
Russische Medien verweisen in ihren Recherchen auf eigene Quellen, während sich die leitende Ermittlungsbehörde hinsichtlich neuer Erkenntnisse in Zurückhaltung übt. Das lässt Raum für Spekulationen, zumal sich die wenigen offiziellen Angaben nicht immer mit den Hinweisen decken, die über die Presse an die Öffentlichkeit gelangen. So sollen Videoaufzeichnungen beweisen, dass Nemzow mindestens seit vergangenem Herbst unter Beobachtung der Beschuldigten stand, also bereits Monate vor dem Anschlag auf Charlie Hebdo, während in Ermittlerkreisen lediglich von wenigen Wochen die Rede ist.
Als Hauptverdächtiger gilt Saur Dadajew, stellvertretender Kommandeur des Bataillons »Sewer«, einer Eliteeinheit des tschetschenischen Innenministeriums. Ihm habe ein gewisser, noch nicht identifizierter Rusik bei der Durchführung des Mordes geholfen, der auch die Tatwaffe und ein Auto zur Verfügung gestellt haben soll. Für die Tat habe Rusik eine hohe Geldsumme in Aussicht gestellt. Außerdem belastet Dadajew einen ehemaligen Offizier des Bataillons »Sewer«, Ruslan Germejew, mit dem er die vergangenen Monate eine Wohnung in Moskau teilte. Bislang gelingt es Germejew, sich einer Vernehmung dank seiner hochrangigen Verwandten zu entziehen, zu denen unter anderem sein Onkel Adam Delimchanow zählt, ein Abgeordneter der Duma, dem der Ruf eines Henkers vorauseilt. Dessen Bruder Alibek wiederum leitet das Bataillon »Sewer«. Bereits am 3. März, also noch vor der Festnahme der Tatverdächtigen, machten tschetschenische Jihadisten auf ihrer Website Kavkazcenter Ramsan Kadyrow, den Präsidenten der Kaukasusrepublik, und dessen Cousin Adam Delimchanow für den Mord an Nemzow verantwortlich.
In Untersuchungshaft zog Saur Dadajew seine Aussagen zurück. Er habe sich schuldig bekannt, um einen gleichzeitig mit ihm in Inguschetien festgenommenen Bekannten vor der Mordanschuldigung in Schutz zu nehmen. Zu dieser Entscheidung drängten ihn seiner Aussage zufolge Polizisten. Zudem bange er um sein Leben, da ein weiterer Verdächtiger bei seiner Verhaftung ums Leben gekommen war. Dieser soll die Polizei mit einer Granate attackiert und sich dann selbst in die Luft gesprengt haben. Beim Haftprüfungstermin habe Dadajew keine Gelegenheit gehabt, seine Haltung zur Sprache zu bringen.
Auch von Folter berichtete Dadajew zwei Mitgliedern einer unabhängigen Beobachterkommission, die ihn in der Untersuchungshaft besuchten. Beide wurden anschließend verhört und der Drohung ausgesetzt, sie müssten mit einem Strafverfahren rechnen, da sie ihre Vollmachten überschritten und dem Verdächtigen unter anderem dessen rechtliche Situation erklärt hätten. Eine der beiden, Eva Merkatschewa, Journalistin bei der Zeitung Moskowskij Komsomolets, wird nun als Zeugin in dem Mordverfahren geführt, obwohl sie mit dem Verfahren an sich nichts zu tun hat und keine Hinweise geben kann. Doch unterliegt sie nun der Schweigepflicht und weitere Besuche bei den Verdächtigen sind ihr untersagt.
Mittlerweile drangen weitere Einzelheiten über die Verhaftung an die Öffentlichkeit. Demnach beabsichtigte Dadajews Begleiter, sich mit einem Drogendealer zu treffen. Nach der Festnahme seien Anrufe aus Tschetschenien erfolgt mit der Forderung, die Verhafteten freizulassen. In Tschetschenien wäre es schwer gefallen, der Gesuchten habhaft zu werden. Erst nachdem auswärtige Ermittlungsexperten von den Umständen Wind bekommen hatten, ließen sie die komplette Polizeiwache von einer Sondereinheit stürmen. Im Übrigen habe Dadajaew ein Alibi, ließ dessen Anwalt wissen.
Mehrere Zeitungen berichteten von einer angeblich existierenden Todesliste, auf der Namen weiterer bekannter Regierungkritiker stehen: Michail Chodorkowskij, Aleksej Wenediktow, der Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskaus, und Ksenija Sobtschak, die Russland inzwischen verlassen hat. Sollte diese Liste tatsächlich existieren, so ließe sich theoretisch auch hier eine Verbindung zum Kaukasus wegen islamkritischer Aussagen oder offener Kritik am tschetschenischen Präsidenten herstellen, die jedoch vehementer ausfielen als die Nemzows. Einer anderen Theorie zufolge war dessen Hilfe bei der Erstellung der US-Sanktionliste das Motiv.
So richtig erschließen will sich die Logik hinter dem Mord nicht, umso naheliegender scheint es, die Zustände im Machtapparat zu beleuchten. Die Agentur Bloomberg bezog sich gleich auf mehrere Insiderquellen, die sagten, Putin sei außer sich gewesen, als er über den Mord an Nemzow informiert wurde. Noch beunruhigter habe er auf die Nachricht von einer tschetschenischen Spur reagiert. Kadyrows Machtambitionen, die sich längst nicht mehr nur auf seine kleine Republik beschränken, dürften der Regierung Kopfzerbrechen bereiten. Bislang hatte Putins Statthalter in Tschetschenien wesentlich mehr Freiheiten zugestanden bekommen als andere Regionalfürsten, deren Vollmachten stark schrumpften.
Andere beziehen in ihre Vermutungen, der Mord an Nemzow könne Ausruck eines Machtkampfes sein, nicht nur Kadyrow ein. So sieht der Hauptaktionär der regierungskritischen Nowaja Gazeta, Alexander Lebedew, »dunkle Kräfte« am Werk und warnt vor der aufstrebenden Antimaidan-Bewegung. Harsche Kritik an Putin kommt auch aus dem nationalistischen Lager der Donbass-Lobby, die ihr Projekt von »Neurussland« durch den russischen Präsidenten verraten sieht. Der wusste sich in der Vergangenheit jedoch immer zu helfen. Was bleibt, ist eine diffuse Vorahnung, dass es weitere eigenartige Vorkommnisse geben wird.
Ute Weinmann