Wie antisemitisch ist das Land? Eine Konferenz versuchte eine Bestandsaufnahme
Wer mit den sprachlichen Gepflogenheiten nicht vertraut ist, wundert sich darüber, wie präsent antisemitische Stereotype im russischen Alltag sind. Doch das Ausmaß hat seit Anfang der 90er-Jahre deutlich abgenommen. Laut Anti-Defamation League (ADL) gibt es inzwischen nirgendwo in Osteuropa so wenig Antisemitismus wie in Russland. Auch russische Experten stellen fest, dass die Anzahl der Vorfälle mit eindeutig antisemitischem Hintergrund rückläufig ist.
Medien Im postsowjetischen Russland herrscht hinsichtlich verbaler antisemitischer Äußerungen zumindest in den staatlichen Medien ein Tabu, das nur selten gebrochen wird. Insbesondere im Fernsehen, wo im Regelfall kein zufälliges Wort fallen darf, gibt es in dieser Hinsicht ohnehin kaum Spielraum.
Anfang 2014, als die Eindrücke von den Protesten in der Ukraine noch frisch waren, ließ die Kontrolle offenbar nach. So lud im März 2014 der Fernsehsender Rossija 24 den bekannten extrem rechten Publizisten Alexander Prochanow ein, der den Juden in der Ukraine vorwarf, »einen zweiten Holocaust« herbeizuführen. Darauf reagierte die Moderatorin prompt und sagte, die Juden hätten »auch den ersten herbeigeführt«.
Derartige Ausfälle leistete sich das Staatsfernsehen jedoch nur wenige Monate lang. »Vermutlich sollte dies die Stimmung anheizen«, meint Alexander Werchowskij. Er ist Direktor des Zentrums SOVA, das Formen rechter Gewalt analysiert und gemeinsam mit dem Russisch-Jüdischen Kongress (RJC) antisemitische Vorfälle dokumentiert.
Auf Initiative von RJC-Präsident Jurij Kanner fand Anfang des Monats erstmals in Moskau eine internationale Konferenz gegen Antisemitismus statt. Unter dem Motto »Die Zukunft sichern« versammelten sich etwa 400 Vertreter jüdischer Organisationen, darunter der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, angesehene Wissenschaftler, Journalisten und Lehrer. Auch politische Prominenz war vor Ort, wie Österreichs früherer Bundeskanzler Werner Faymann. Hochrangige russische Politiker blieben der Veranstaltung allerdings fern.
Zahlreiche Diskussionsrunden widmeten sich unterschiedlichen Fragestellungen. Die Bandbreite war groß: Es ging von Religion über das Phänomen der Schoaleugnung oder -verharmlosung bis hin zum Judenhass im Sport. Denn in zwei Jahren ist Russland Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft.
Umfrage Ergebnisse einer vom Russisch-Jüdischen Kongress in Auftrag gegebenen Studie stellte überdies das Meinungsforschungszentrum Lewada vor. Demnach hätten lediglich acht Prozent der russischen Bevölkerung eine negative Einstellung gegenüber Juden. Doch die Forscher halten fest, dass seit Anfang der 90er-Jahre immer mehr Russen an eine »zionistische Weltverschwörung« glauben und Juden nicht gern in Leitungsfunktionen sehen.
Allerdings, so haben die Wissenschaftler herausgefunden, trifft Letzteres auch auf andere Minderheiten zu. Wichtige politische Ämter, allen voran das des Präsidenten, sollten nach Ansicht einer überwiegenden Mehrheit im Land »richtigen Russen« vorbehalten bleiben.
Auch wenn der Tenor der Konferenz auf eine verhältnismäßig entspannte Lage hindeutete, gab es stellenweise deutliche Stimmen, die keine Entwarnung geben wollen. Pinchas Goldschmidt, Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz und seit mehr als 20 Jahren Oberrabbiner von Moskau, bedauerte in seinem Abschlussstatement, dass die Vertreter der in Russland offiziell anerkannten Religionen lieber über kulturellen Dialog sprechen als Dinge beim Namen zu nennen. Alexander Werchowskij sieht darin einen logischen Zusammenhang: »Was in den Medien nicht vorkommt, muss auch nicht diskutiert werden.«
Weniger auf die Anstrengungen des Staates als auf das tatkräftige Engagement nichtstaatlicher Träger lassen sich positive Entwicklungen in der Erinnerungskultur zurückführen. So wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Denkmäler aufgestellt, die an Juden erinnern, die in der Sowjetunion von Deutschen ermordet wurden. Und auch das Wissen um den Holocaust ist durch diverse Bildungsmaßnahmen in der jüngeren Generation angewachsen.
ute weinmann