Jahrestag der Ernüchterung

Drei Jahre nach Beginn der Maidan-Proteste hat in der Ukraine kein wirklicher »Regime Change« stattgefunden. Trotzdem hat sich das Land verändert. Auf den Straßen wird dieser Tage Bilanz gezogen, aber die Massen lassen sich nicht mehr aufrütteln.

Angefangen hat es 2013 mit den als »Euromaidan« und »Revolution der Würde« betitelten monatelangen Protesten. Geblieben ist ein wehmütiges Andenken an Aufbruchsstimmung. Drei Jahre nach dem Aufbegehren großer Teile der Bevölkerung gegen das alte politische Establishment der Ukraine unter dem damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen. Und diese fällt nüchtern betrachtet nicht sehr positiv aus. Eine Revolution im Sinne eines grundlegenden gesellschaftspolitischen Umbruchs hat nicht stattgefunden. Und doch ist die Ukraine ein anderes Land geworden, eines, das zumindest einen wie auch immer gearteten Versuch unternommen hat, mit den wenig erfreulichen politischen Gegebenheiten zu brechen.

Vor dem Jahrestag am 21. November gab es vielfältige Spekulationen über eine Neuauflage des »Maidan«. Anlass dazu waren Informationen, die ukrainische Hacker ­verbreitet hatten. Sie hatten sich zuvor Zugang zum E-Mailaccount des hoch­rangigen russischen Regierungsberaters Wladislaw Surkow verschafft. Darin sollen sich Angaben über einen Plan zur Destabilisierung der Ukraine gefunden haben mit der Bezeichnung Schatun, was auf Russisch »Tretkurbel« bedeutet, aber auch einen sich herumtreibenden wilden Bären bezeichnet. Die ukrainischen Geheimdienste deuteten dies als erneuten Hinweis auf russische Umtriebe, aber der Pressesprecher des russischen Präsidenten sagte lakonisch, Surkow habe gar keine E-Mails genutzt.

Zum Auftakt der Jahrestagsproteste Mitte November fanden im Regierungsviertel gleich mehrere angemeldete Kundgebungen statt, allerdings hielt sich die Teilnehmerzahl in Grenzen. Vor dem Parlament versammelten sich etwa 3 000 Menschen, die dem Aufruf von Kontoinhabern bankrott­gegangener Banken und Gegnern erhöhter Kommunalabgaben gefolgt ­waren. Etwas mehr Menschen protestierten vor dem Gebäude der Nationalbank. Größtenteils fanden sich Rentner ein, die guten Grund haben, ihrem ­Unmut kundzutun. Nach offiziellen Angaben leben knapp 60 Prozent der ­ukrainischen Bevölkerung am Existenzminimum, die Armut ist stark angestiegen und hat je nach Einschätzung ein Viertel oder sogar die Hälfte der Einwohner erfasst. Inflation und der rasante Anstieg von Wohnnebenkosten sind die Hauptgründe. Legt man den vom Finanzministerium errechneten Durchschnittslohn für die Ukraine zugrunde, nämlich weniger als 200 Euro im Monat, wird deutlich, dass die durch Arbeit erwirtschafteten Mittel zum Leben kaum ausreichen. Entsprechend beliebt sind Debatten über ­offengelegte Vermögensverhältnisse hochrangiger Staatsbediensteter, Abgeordneter, Richter und Staatsanwälte, die sich in den von ukrainischen Oligarchen kontrollierten Medien einen festen Platz als Hassobjekte erobert haben. Der unermessliche Reichtum der Oligarchen selbst hingegen tritt dezent in den Hintergrund.

Protestiert wird nicht nur in Kiew und nicht erst seit Mitte November, die Anlässe sind immer dieselben: Lohnausstände, Verlust von Bankeinlagen, wachsende Kosten. Reformen gehen zu langsam vonstatten, greifen nicht und außerdem bleibt ein schaler Beigeschmack zurück, auf dem Maidan letztlich nur einer neuen alten Elite auf den Thron verholfen zu haben, die sich am gesellschaftlichen Reichtum be­reichert. Ernüchtert sind selbst jene, die erst im Zuge der Proteste in die Politik aufgestiegen sind, wie der ehemalige Gesundheitsminister Oleg Musij und einige Parlamentsabgeordnete. Die Fraktion des »Blocks Petro Poroschenko«, des ukrainischen Präsidenten, hat Musij mittlerweile verlassen. Selbst­kritisch merkte er an, dass die neuen Politiker Janukowitschs altes Herrschaftssystem übernommen hätten, anstatt damit zu brechen. Damit bestehe eine Kontinuität zum alten Regime und weiterhin die Notwendigkeit zum Protest. Ob es da zur Anheizung der Stimmung den russischen Bären wirklich braucht, sei dahingestellt.

Am 21. November meldete sich, wie auch die Jahre zuvor, vor allem die ex­treme Rechte zu Wort. Auch diese kritisierte, die Forderungen des Maidan seien unerfüllt geblieben. Proteste von Neonazis aus dem berüchtigten Bataillon Asow und der Partei »Nationaler Korpus« von Andrej Bilezkij fanden unter dem Motto »Frage an Petro Poroschenko« statt. Die politische Konkurrenz, der »Rechte Sektor« und die Organisation Ukrainischer Nationalisten – an der auch Mitglieder der Neonazi­bewegung beteiligt sind –, hielt eine ­eigene Feierkundgebung mit anschließendem »Revolutionsmarsch« ab. Auch dort lautete der Tenor, die Revolution sei längst noch nicht zu Ende.

Als Avantgarde der Revolution taugen die Neonazis trotz ihrer Umtriebe jedoch weder zahlenmäßig, noch ver­fügen sie über genügend Rückhalt in der Bevölkerung. Aber als politische Kraft zum Anheizen des Protests beziehungsweise als willkommenes Argument für staatliche Gegenmaßnahmen sind sie geeignet. Eine rechte Einheitsfront gibt es trotzdem nicht, finanzielle Zuwendungen stammen aus unterschiedlichen Quellen und jeder größere Auftritt dürfte sich als Wahlkampfmaßnahme verstehen lassen. Vorgezogene Parlamentswahlen sind als Thema derzeit so virulent, dass auch andere wieder auf sich aufmerksam machen, darunter auch die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Sie kündigte für Ende November eigene Proteste an, während Michail Saakaschwili, der Anfang November als Gouverneur von Odessa zurückgetreten war, seine politische Kampagne bereits am vergangenen Sonntag begann.

Saakaschwili galt mit seiner Erfahrung als Präsident Georgiens indes weniger als Geheimwaffe in der Korrup­tionsbekämpfung denn als anständiger Gehilfe Poroschenkos. Brav unterzog Saakaschwili die Regierung unter Arsenij Jazenjuk heftiger Kritik, bis dieser im April sein Amt als Ministerpräsident niederlegte. Poroschenko sparte er immer aus, bis jetzt. In Odessa gelang es Saakaschwili als Außenseiter nie, wirklich Fuß zu fassen, dort hat der Bürgermeister Gennadij Truchanow das Sagen. Ein Teil von dessen Offshore-Business ist auf den Virgin Islands registriert, dafür nutzte Truchanow, der, wie sich im Frühjahr herausstellte, die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, seinen russischen Pass. Dass Saakaschwili erst jetzt zurücktritt, mag mit seinen Hoffnungen verbunden gewesen sein, wieder nach Georgien zurückzukehren. Bei den georgischen Parlamentswahlen im Oktober steckten seine Anhänger eine Niederlage ein. Somit ist ihm der Weg zurück verbaut und nun bietet er sich mit seiner »Bewegung neuer Kräfte« auf dem ukrainischen Markt als Oppositionskämpfer gegen Poroschenko an.

Beim Gedenken an den Maidan spielen die vielen Toten eine Rolle. Im Zuge der gerichtlichen Aufarbeitung der ­Ereignisse wurden nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft bislang 35 Personen für die Maidan-Morde verurteilt, weitere 152 sitzen auf der Anklagebank und gegen 190 laufen Strafermittlungen. Allerdings handelt es sich dabei ausschließlich um Befehlsempfänger, die verantwortlichen Entscheidungsträger bleiben unbehelligt.

In Kiew stehen derzeit fünf Angehörige der Sondereinheit Berkut vor Gericht, die sich wegen Mordes in 48 Fällen im Februar 2014 verantworten müssen. Am 25. November sollte Viktor Janukowitsch aus Rostow am Don per Videokonferenz zugeschaltet werden, um seine Zeugenaussage zu machen, doch der angesetzte Termin platzte. Mehrere Dutzend Anhänger des »Rechten Sektors« blockierten die Ausfahrt des Untersuchungsgefängnisses und verhinderten somit, dass die Angeklagten der Verhandlungssitzung beiwohnen konnten. Wladimir Zagazej, der Leiter der Kiewer Sektion des »Rechten Sektors«, begründete dies mit dem Verweis auf Insiderinformationen, wonach das Gericht die zu erwartenden Unschuldsbezeugungen durch Janu­kowitsch zum Anlass nehmen könnte, die Angeklagten freizulassen, was es zu verhindern gelte.

Janukowitsch, der in Russland Asyl erhalten hat, gab stattdessen eine spontane Pressekonferenz. Er sprach sich für einen Verbleib des Donbass in der Ukraine aus und machte die Protestierenden auf dem Maidan für die tödlichen Schüsse verantwortlich. Bei der am Montag schließlich doch abgehaltenen Zeugenbefragung nannte er außerdem den damaligen Chef der Präsidialverwaltung, Sergej Lewotschkin, als möglichen Mitverantwortlichen.

Zu den innenpolitischen Missständen und den andauernden Kampfhand­lungen im Donbass kommt auch noch eine schwer kalkulierbare internationale Dimension hinzu. Gläubiger wie der Internationale Währungsfonds bestehen auf Rückzahlungen und fordern die Privatisierung staatlicher Betriebe. Durch den Wahlsieg von Donald Trump bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen und dessen mögliche Annäherung an Russland kommen Unsicherheiten auf. Zugleich ist in der ­Ukraine immer wieder zu hören, dass der Maidan viele Menschen dazu animiert habe, sich für gesellschaftliche Belange einzusetzen. Bleibt zu hoffen, dass sie auf den nächsten Maidan besser vorbereitet sein werden.

ute weinmann

Jungle World

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