Mischas Markenzeichen

Lado Vardosanidze ist Professor an der Fakultät für Architektur an der Technischen Universität in Tiflis, Architekt und Städtebautheoretiker. Mit der Jungle World sprach er über die Gründe für den Erhalt der Altstadt von Tiflis, soziokulturelle Besonderheiten, die nachhaltige Zerstörung des Stadtmilieus und den ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili.


Ein einheitlicher Architekturstil ist für Tiflis eher untypisch. Foto uw

Womit genau beschäftigen Sie sich?

Ich bin seit 1979 Professor, inzwischen allerdings nur noch in beratender Funktion. Mein Schwerpunkt liegt auf Städtebautheorie und den soziokulturellen Grundlagen der Stadtentwicklung. Das heißt ich setze mich nicht mit der Umsetzung konkreter Stadtplanung auseinander, sondern mit den Ursachen, warum diese notwendig ist. Ich nehme also nicht die Anatomie der Stadt in den Blick, sondern ihre Physiologie. Diese Unterscheidung zu treffen war in Georgien unüblich. Von einem Architekten wurde verlangt, sowohl die Inneneinrichtung einer Boutique, als auch einen Generalplan zur Stadtentwicklung zu konzipieren. Nun hat sich die Stadtentwicklung als eigenständige Fachrichtung etabliert. Von der Bezahlung und den kreativen Möglichkeiten her ist es aber wesentlich attraktiver private Aufträge anzunehmen.

Um welche Projekte geht es dabei und wer sind die Auftraggeber?

Derzeit arbeite ich an einem Lehrbuch und führe Weiterbildungen an Gemeinden in ganz Georgien durch, um bei den für städteplanerische Fragen verantwortlichen Beamten ein Verständnis für die Notwendigkeit von Raumplanung zu vermitteln. Es handelt sich dabei um ein großangelegtes Projekt der Weltbank. Georgien und Tiflis stellen zwei völlig unterschiedliche Universen dar. Die Urbanisierung der georgischen Kultur steht noch ganz am Anfang. Lenin hat viel Unsinn von sich gegeben, aber es gibt auch treffende Aussagen von ihm, beispielweise wenn er von der Idiotie des Landlebens spricht. Dort herrschen katastrophale Zustände, es gibt nicht einmal überall Wasserleitungen. Der Westen pumpt enorme Summen in die Modernisierung der Infrastruktur, aber die versanden. Eines unserer größten Probleme ist die Korruption in den Eliten. Mischa (Michail Saakaschwili) hat zwar mit der Korruption an der Basis Schluss gemacht, aber in den oberen Etagen sind Unsummen im Umlauf.

Sowjetische Architektur hat Tiflis mit ihren zahlreichen ambitionierten Bauprojekten einen deutlich sichtbaren Stempel aufgedrückt. Wie wirkt sich dieses Erbe heute aus?

Was wir heute sehen lässt sich im Wesentlichen der sozialistische Rekonstruktion der Stadt zuordnen, wie sie im ersten Generalplan von 1934 festgehalten ist. Tiflis zieht sich wie eine Linie am Flussbett entlang und verfügt zudem über ein aus Feudalzeiten stammendes organisches Stadtzentrum, das sich ausgehend von den konkreten Bedürfnissen seiner Bewohner entwickelte ohne planerisches Element. Diese Altstadt wurde nur deshalb nicht dem Abriss preisgegeben, weil wir uns seinerzeit von ihr abgewendet haben. Nicht aus Pietät vor den alten Bauten, sondern umgekehrt. Die Bolschewiki waren gegen das Alte und propagierten das Neue. Das brachte die Rettung.

Aber was hat sie dann vor dem Zerfall bewahrt?

Bis Mitte der 1970er Jahre machte die Stadt einen völlig vernachlässigten Eindruck. Die 1966 eingeweihte erste Metrolinie verband zwei an den jeweiligen Enden der Stadt gelegene Industrieviertel, den Bahnhof und das ebenfalls flussaufwärts gelegene administrative Stadtzentrum miteinander — ohne Berücksichtigung der großen Wohnviertel, die damals gerade erst in Planung waren. Erst später kam eine weitere Linie hinzu. Georgiens damaliger erster Parteisekretär, Eduard Schewardnadse, lenkte die Unzufriedenheit hauptsächlich unter Studenten auf die Erhaltung von Denkmälern, darunter auch Kirchengebäude. Das war ein kluger Schachzug. Zu der Zeit wurde die Sanierung der historischen Altstadt in Angriff genommen. Heute indes gestaltet sich jede Form der Renovierung kompliziert, weil Investoren und Developer ihre Interessen durchsetzen. Darunter sind viele reiche Georgier, die in Russland leben. Wir leben in einer Konsumepoche. Die Stadt fungiert als Melkkuh und damit einher geht die Vernichtung des Stadtmilieus.

Führt das zum Abriss des alten Baubestandes?

Das kommt vor, passiert jedoch nicht massenweise. Die Wucht der Veränderungen trifft in erster Linie die aus stalinistischen Zeiten oder etwas später entstandene Bebauung. In der Altstadt wurden sicherlich grobe Fehler gemacht, aber man kann nicht sagen, dass sie zielgerichtet zerstört wird. Unsere recht starken Nichtregierungsorganisationen, die sich anfangs vor allem mit Umweltfragen beschäftigen, interessieren sich inzwischen auch für Sozialökologie. Sie haben den Erhalt des Gudiaschwili-Platzes im historischen Zentrum und den der Fassade des ehemaligen Institutes für Marxismus-Leninismus durchgesetzt.


Dieser gläserne Turm ist von überall zu sehen. Foto uw

Aber im Innenhof wurde ein riesiges Hochaus errichtet.

Ja, das ist eine Katastrophe. Die Altstadt von Tiflis wurde 2007 zur Aufnahme in die Liste als Weltkulturerbe nominiert, aber seither hat sich nichts getan. Zuvor wurden drei Empfehlungen ausgesprochen, nämlich die Einrichtung einer gesonderten Verwaltung der Altstadt, die Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen zu deren Erhalt und die Abwehr baulicher Verunstaltung. Die ersten beiden Punkten konnten umgesetzt werden, der dritte nicht. Mischa wollte Tiflis zu einem Markenzeichen machen — das immerhin ist ihm gelungen. Sein Hauptaugenmerk legte er auf die Aghmashenebeli Avenue mit ihrer Bebauung aus dem 19. Jahrhundert. Zwar gab es Aufschreie von Kunstwissenschaftlern wegen des vermeintlichen Authentizitätsverlustes der Gegend, aber man darf in Tiflis ohnehin nicht nach geschlossenen Architekturensembles suchen. Hier gilt es sich am epochenübergreifenden Stadtmilieu zu erfreuen. Außerdem ist das alte Tiflis durch seine soziokulturelle Struktur von besonderem Interesse. Hier haben sich lange Zeit Wohnviertel nach der Zunftzugehörigkeit ihrer Bewohner erhalten. Außerdem war Konkurrenz ausgeschlossen, Preise wurden durch die Zünfte festgelegt und es existierte ein System sozialer Kontrolle. Geld spielte im lokalen Wertesystem eine untergeordnete Rolle.

Hat sich davon bis heute etwas erhalten?

Nein, es ist genau umgekehrt. Meine Generation kennt noch den alten Verhaltenskodex, der sich durch Lokalpatriotismus und eine ausgeprägte Gastfreundschaft auszeichnete. Dabei gilt es den von vielen geleugneten Umstand zur Kenntnis zu nehmen, dass in dieser Stadt mehr Armenier als Georgier lebten. Durch die Gentrifizierung und den Verkauf traditioneller Wohnhäuser mit ihren Innenhöfen in der Altstadt an Investoren verschwindet mit der Zeit die für die alten Viertel typische Lebensweise. Mischa ist als Meinungsmacher unübertrefflich. Sein Haus der Justiz ist von seiner Funktionsweise her absolut genial. Innerhalb von 15 Minuten wird jedes beliebige Dokument ausgestellt. Aber an jener Stelle befanden sich Tennisplätze, die in der Stadt einen historischer Ort darstellten, und ein wunderbarer Park. Aus städtebaulicher Perspektive ist Mischa ein Verbrecher.

ute weinmann

Jungle World


In diesem Gebäude befand sich früher die größte Druckerei von Georgien. Heute ist hier ein Hotel. Foto uw

Запись опубликована в рубрике Foto, Geschichte + Gegenwart, Interview, Kaukasus, Kultur. Добавьте в закладки постоянную ссылку.