»Der Inlands­geheimdienst FSB bleibt auf jeden Fall ermittelnde Instanz«


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Aleksandra Krylenkowa wurde 1979 in Leningrad geboren und kam über ihre Familie frühzeitig mit der Menschenrechtsorganisation Memorial in Kontakt, bei der sie dann lange aktiv war. Vor einigen Jahren gründete sie die Organisation »Offener Raum«, die in Sankt Petersburg und seit kurzem auch in Moskau Treffpunkte betreibt, in denen sich politisch engagierte Menschen austauschen können.

Im Juni 2020 wurden in der sibirischen Stadt Kansk drei 14jährige verhaftet. Diese sitzen seitdem in Untersuchungshaft, einer von ihnen steht unter Hausarrest. Ihnen wird vorgeworfen, terroristische Handlungen geplant zu haben. Die Anklage stützte sich zunächst unter anderem darauf, dass sie im Videospiel Minecraft ein Gebäude des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB nachgebaut und gesprengt haben sollen. Der Fall erhielt große Aufmerksamkeit. Wie kommt es, dass auf einmal Minderjährige als Terroristen verfolgt werden?

Rückblickend kann man sagen, dass diese Jugendlichen das Glück hatten, dass eines der Verdachtsmomente in der Nutzung des Videospiels Minecraft bestand. Diese Nachricht schlug wie eine Bombe ein, obwohl es zahlreiche ähnlich geartete Strafverfahren gibt. Die Aufsichtsbehörde Rosfinmonitoring, die für die Erfassung von Personen zuständig ist, die in Terrorismusverdacht geraten sind, listet derzeit 51 Minderjährige auf. Selbst wenn Verfahren eingestellt werden, ist es praktisch unmöglich, seinen Namen aus dieser Liste entfernen zu lassen.

Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Das war eine Reaktion auf die Tragödie von Kertsch. Im Oktober 2018 erschoss ein Student einer Berufsschule 20 Studierende und Angestellte und anschließend sich selbst. Es handelte sich um den ersten Amoklauf solchen Ausmaßes in einer Bildungseinrichtung in Russland. Bis dahin kam es zwar immer mal wieder zu Messerattacken von Schülern, aber das hat kaum jemanden gekümmert. Nach dem Amoklauf in Kertsch wurde allerorts über die Zunahme von Terrorismusverfahren debattiert und darüber, dass Krimtataren als Terroristen verfolgt werden, obwohl sie niemanden getötet haben. Offenbar überdachten die Staatsschutzbehörden daraufhin ihre Strategie. Nach etwa einem Jahr mündete das darin, dass in steigendem Maß auf Strafverfolgung abzielende, intensive polizeiliche Beobachtung von Jugendlichen stattfand. Dabei werden über einen längeren Zeitraum riesige Menge an Informationen gesammelt, wie man in den Strafakten sehen kann – zum Beispiel durch Videoaufnahmen oder durch verdeckte Ermittler.

Womit machen Jugendliche sich verdächtig? Geht es da in erster Linie um Kritik an der Regierung?

Das scheint nicht den Ausschlag zu geben. Liegen aber Hinweise auf eine entsprechende politische Gesinnung vor, kommt das als erschwerender Umstand hinzu. In Samara gab es den Fall eines Jungen, der seine Sympathien für Aleksej Nawalnyj im sozialen Medium Vkontakte frei heraus zum Besten gegeben hat. Während der Protestwelle 2017 glaubte er ernsthaft, die Revolution stehe bevor, auch weil der rechte Oppositionelle Wjatscheslaw Malzew per Video unermüdlich dazu aufgerufen hatte. Um sich für den Tag X zu rüsten, füllte der damals etwa Zwölfjährige Flaschen mit Spiritus ab und stellte sie auf den Balkon. In den Ermittlungsakten liest sich das jetzt als Beweis dafür, dass er Anschläge auf seine Schule ­geplant habe.

Heißt das, im Zentrum der Ermittlungen steht meistens die Schule?

Wenn Kinder in den Wald fahren und Flaschen gegen Wände leerstehender Gebäude werfen, geraten sie in Umsturzverdacht. Bleiben sie in der Stadt und jemand sagt: »Ich hasse meine Mitschüler« – was bei Jugendlichen keine Seltenheit ist –, kommt das Schulthema ins Spiel. All diese Fälle vereint eine langfristige Beobachtung im Vorhinein, trotzdem gibt es Unterschiede. Im Fall des Zwölfjährigen aus Samara spielte die politische Gesinnung eine Rolle, und dennoch lautet der Vorwurf, das ­eigentliche Ziel sei die Schule gewesen. Oft geht es aber auch nur um die Schule, ohne weitere politische Komponenten.

Und auch dann laufen Ermittlungen wegen Terrorismus?

Meistens ja. Es gibt zwei Arten von Anschuldigungen: Die Absicht, einen Massenmord zu begehen – derzeit laufen etwa 70 solcher Verfahren – oder, wenn Waffen, beispielsweise Molotowcocktails sichergestellt werden, Terrorismus. Je nach Sachlage werden Ermittlungen erst nach einem Paragraphen eingeleitet und dann im Verlauf nach einem anderen weitergeführt. So oder so bleibt der Inlandsgeheimdienst FSB die ermittelnde Instanz, wegen der Einschätzung, dass die ausgehende Gefahr hoch sei.

Trotz dieser enormen ­Bemühungen war auf den 19jährigen Schützen von Kasan, der im vergangenen Mai in seinem alten Gymnasium neun Menschen erschossen hat, niemand aufmerksam geworden. Er hatte schlichtweg in kein Schema gepasst.

Jeder Psychologe, mit dem ich gesprochen habe, sagt, dass sich eine konkrete Tatabsicht im Vorhinein grundsätzlich nicht identifizieren lässt. Man kann das Umfeld verändern, psy­chologische Hilfe leisten, aber Strafverfolgung zur Abschreckung oder zur Prophylaxe führt zu nichts – sie hat aber für die Betroffenen fatale Folgen.

Hat die intensivierte Beobachtung von Schülerinnen und Schülern auch etwas damit zu tun, dass Nawalnyj in dieser Altersgruppe über eine relevante Anhängerschaft verfügt?

Das ist eine weitverbreitete Ansicht in der liberalen Opposition, aber ich glaube, das stimmt nicht. Die Behörden erfassen natürlich auch routinemäßig Minderjährige, weil sie Nawalnyj unterstützen. Jugendliche haben defi­nitiv zu einer Vitalisierung der Proteste beigetragen, weil sie, anders als enttäuschte und durch Repression abgeschreckte Erwachsene, nicht an mögliche negative Folgen in der Zukunft denken. Aber die Verfolgung Jugendlicher als Terroristen hat dazu keine ­direkte Verbindung, das ist eine andere Problematik.

Oft hört man die These, der Staat tue sich schwer im Umgang mit der jungen Generation und habe sie verloren.

Immerhin gibt es heutzutage zahlreiche staatliche Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche. Ich würde eher sagen, wir als kritische Opposition haben sie verloren. Zu Beginn des Jahrtausends gab es noch viele alternative Programme für junge Leute, aber die Spielräume haben sich zusehends verengt und inzwischen ist es aus strafrechtlicher Sicht nicht ganz ungefährlich, mit Minderjährigen zu arbeiten. Noch vor wenigen Jahren konnte für viele Veranstaltungen problemlos an Universitäten geworben werden. Bis 2014 wurde ich sogar selbst zu Vorlesungen zum Thema Menschenrechtsarbeit eingeladen.
Uns selbst fehlt mittlerweile der Zugang zur jungen Generation. Wir haben uns in einer Parallelwelt eingerichtet und sind mehr und mehr darauf ausgerichtet, unter schwierigen politischen Bedingungen unsere eigene Existenz abzusichern. Das ist nicht gerade förderlich, um neue Menschen für die eigene Sache zu gewinnen und alternative Wege aufzuzeigen, besonders bei Jugendlichen, für die es spezielle Angebote braucht.

Es fällt auf, dass die meisten Terrorismusverfahren gegen Jugendliche in den Regionen eingeleitet werden, abseits der Metropolen, in denen eine relativ gute Infrastruktur vorhanden ist, um sich mit dem nötigen Rechtsbeistand abzusichern.

Werden Aktivisten verfolgt, wissen sie meist genau, an wen sie sich wenden können; für die Eltern jener Jugendlichen gilt das nicht. Überhaupt ist die Menschenrechtsarbeit bei uns nicht breit aufgestellt, denn alle Organisationen spezialisieren sich auf eng gefasste Themenfelder. Taucht ein neues Problem auf, fehlt es an Kompetenz. Dazu kommt, dass bei Terrorismusvorwürfen immer die Angst mitspielt, der Anfangsverdacht könnte begründet sein. Widerlegen lässt sich das nur, wenn man sich mit dem Fall befasst. Menschenrechtsanwälte wollen oft nur jene verteidigen, von deren Unschuld sie überzeugt sind. Das ist ein Teufelskreis.

Interview ute weinmann

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