Kontrollierter Mangel

Die Sowjetunion hatte den Anspruch, ein egalitäres System zu schaffen. Nach ihrem Scheitern sind viele Menschen in Russland arm oder zumindest übergangsweise unterstützungsbedürftig. Für sie stehen einige zwar einige staatliche Leistungen bereit. Doch der russische Sozialstaat ist bei weitem nicht so ambitioniert wie der Kontrollstaat.

Vor bald drei Jahrzehnten verschwand die Sowjetunion von der Landkarte. Doch noch immer gibt es Menschen, die das dort errichtete sozialistische Gesellschaftsmodell als Prototyp des Sozialstaates betrachten, dem die russische Regierung bis heute treu bleibe. In den 1920er Jahren, also in der Zeit der «Neuen Ökonomischen Politik» mit ihren kapitalistischen Wirtschaftselementen, hatte der neue Staat erstmals die Zahlung von Arbeitslosengeld eingeführt. Bereits 1930 hatte sich das Thema erledigt, denn die Arbeitslosigkeit galt offiziell als besiegt. Vollbeschäftigung existierte durch Zwangsarbeit, in der Spätphase der Sowjetunion auch durch Bestrafung von Arbeitsverweigerung sowie eine Arbeitspolitik, die die Gesetze der Produktivitätssteigerung missachtete. Arbeiten wurde als eine unhintergehbare Pflicht verstanden.

Erst kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion ließ die damalige Führung Debatten über Armut zu. Читать далее

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Ausschließen und einsperren

Oppositionelle Kandidaten wurden für die Moskauer Stadtparlaments­wahlen nicht zugelassen. Bei Protesten kam es erneut zu Massenfestnahmen.

Im September finden in Moskau Stadtparlamentswahlen statt – ohne die Opposition. Die Wahlkommission lehnte 57 Kandidaturen ab, darunter auch die führender liberaler Politiker und Politikerinnen der russischen Hauptstadt. Weil diese sich nicht mit ihrem Ausschluss abfinden wollten und zu Protest aufriefen, wurden einige von ihnen zu Administrativhaft zwischen sieben und 30 Tagen verurteilt. Es laufen Ermittlungen wegen Behinderung der Wahlkommission, gegen neun Personen wurde Anklage wegen Beteiligung an Massenunruhen und Gewaltanwendung gegen Poli­zeibeamte erhoben. Darauf stehen bis zu acht beziehungsweise fünf Jahre Haft.

»Wir sind unbewaffnet«, riefen Protestierende im Zentrum Moskaus am 27. Juli. Ihnen standen behelmte, uniformierte Polizeikräfte und Angehörige der Nationalgarde gegenüber. Читать далее

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Kein Geld für Brandbekämpfung

Es sind verheerende Bilder, die seit Wochen über Fernsehbildschirme flimmern. Sibiriens gigantische Waldflächen brennen. Über elf Millionen Hektar Wald fielen in diesem Jahr bereits dem Feuer zum Opfer und es breitet sich unaufhörlich weiter aus. Derzeit erstrecken sich die Waldbrände auf ein Gebiet von etwa drei Millionen Hektar. Besonders betroffen sind die Regionen um Irkutsk, Krasnojarsk, Chabarowsk, Jakutien, Burjatien, die Gegend um Magadan und selbst das fernöstliche Kamtschatka. Читать далее

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Vom Bruder zum Partner

Die russisch-belarussichen Beziehungen sind traditionell sehr eng, wirtschaftlich ist Belarus von seinem großen Nachbarn abhängig. An Konfliktpotential mangelt es jedoch nicht.

Sie stehen einander so nah wie keine zwei anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Russland dominiert kraft seiner immensen Ressourcen, Belarus gibt den gewitzten Juniorpartner, der seine Eigenständigkeit betont und doch existentiell auf den mächtigen Nachbarn angewiesen ist. Innige Nähe in Kombination mit einer demonstra­tiv gewahrten Distanz bestimmen das komplizierte Verhältnis, das im offiziellen Jargon beschönigend als Inte­grationsprozess bezeichnet wird. Aber während zu Beginn der Beziehungen zweier souveräner Staaten noch vieles auf eine dynamische Wiederannäherung unter nichtsozialistischen Vorzeichen hindeutete, geriet der Prozess Ende der neunziger Jahre mit dem Amts­antritt Wladimir Putins als russischer Präsident ins Stocken. Читать далее

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Es gibt wieder Vergangenheit

Am vergangenen Sonntag fand in der nordlitauischen Stadt Šiauliai eine Veranstaltung statt, wie sie vor zehn Jahren in dieser Form wohl undenkbar gewesen wäre. Mit einem Marsch des Lebens, einer Gedenkkundgebung und weiteren Programmpunkten soll an die Liquidierung des jüdischen Ghettos vor 75 Jahren erinnert werden. Die Idee dazu stammt von der lokalen jüdischen Gemeinde und ihrem Vorsitzenden, Sania Kerbelis. Bemerkenswert ist, dass der lokale Verwaltungsapparat das Gedenken unterstützt. »Seltsamerweise ruft die Verwaltung von Šiauliai sogar zur aktiven Teilnahme an der Veranstaltung auf«, freut sich Kerbelis. Er erinnert sich gut an die Zeit, als offizielle Stellen versuchten, das Thema Holocaust so weit als möglich zu ignorieren. Читать далее

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Gefährlicher Nachbar

Proteste gegen ein Grenzabkommen mit Tschetschenien zwangen den Präsidenten der autonomen russischen Teilrepublik Inguschetien zum Rücktritt. Viele Bewohner fürchten, die brutalen Methoden des tschetschenischen Herrschers Ramsan Kadyrow könnten auch in ihrer Republik Einzug halten.

Änderungen von Grenzverläufen sind meist eine heikle Angelegenheit. Oftmals erregen sie die Gemüter weitaus mehr als Fragen der unmittelbaren Existenzsicherung. Die Grenzen der kleinen Republiken im russischen Nordkaukasus änderten sich im Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution ­immer wieder. Nach wie vor bergen Grenzfragen dort viel Konfliktpotential.

Ein im September 2018 unterzeichnetes Abkommen sollte zumindest die andauernden Grenzstreitigkeiten zwischen Tschetschenien und Inguschetien durch einen Austausch angeblich gleichwertiger Gebiete beenden. Читать далее

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Московский быт — I

Армяне — наше всё. Моё — уж точно. Итак, сломался наш старый советский накладной замок. Во всех строительных магазинах в окрестностях меня уверяли в том, что надо купить новый, ибо личинку в старых советских замках менять нельзя. Точка. Звучит это весьма неубедительно, но раз нигде не продавались нужные мне запчасти, то пришлось отправиться на рынок на край света. В первой лавке мужики были уверены, что найти подходящий замок легко, но когда я им показала вышеупомянутый древний металлический предмет с указанием небывалой цены в советских рублях, они свой оптимизм слегка убавили. Читать далее

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Die aufgeflogene Provokation

In Russland stieß die vorübergehende Festnahme des Journalisten Iwan Golunow auf großen Protest. Auch verschiedene Zeitungen hatten sich gemeinsam für seine Freilassung eingesetzt.

Der Fall Iwan Golunow begann wie Hunderte andere zuvor. Am Nachmittag des 6. Juni erschien der 36jährige Journalist nicht zu einem vereinbarten Treffen. Erst in der Folgenacht erfuhr eine Kollegin vom zuständigen Moskauer Strafermittler, Golunow sei ­wegen versuchten Drogenhandels in Gewahrsam. Als Beweismittel dienten 3,56 Gramm der Aufputschdroge Mephedron, die in seinem Rucksack gefunden worden seien, und 5,42 Gramm Kokain, das Polizisten später bei einer Hausdurchsuchung sichergestellt haben wollen. Als Golunow nach Ablauf der zulässigen Frist vor dem Haftrichter erschien, wies er äußerliche Spuren von Misshandlungen auf. Ihm hätten mindestens zehn Jahre Freiheitsentzug gedroht, hätte die Angelegenheit nicht eine untypische Wendung genommen.


»Und wenn du kein Journalist bist?« — Demonstration in Moskau am 12. Juni. Foto uw Читать далее

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»Die Gesellschaft ist apolitisch«

Alexander Samjatin kämpft in Moskau für eine alternative Kommunalpolitik

Alexander Samjatin, hier im Vordergrund bei einer Demonstration, ist Bezirksabgeordneter im Moskauer Stadtteil Sjusino. Dort erlangten Oppositionelle im September 2017 erstmals eine knappe Mehrheit. Als Linker steht Samjatin trotzdem ziemlich alleine da. Foto uw

Sie wurden 2017 als unabhängiger Kandidat gewählt. Welche Ziele haben Sie sich damals gesetzt?

Meine Strategie besteht darin, Politik offen und transparent zu gestalten. Alle haushalts- und sozialpolitischen Fragen, ja eigentlich alle für Stadtpolitik relevanten Punkte werden in Moskau unter Ausschluss der Menschen verhandelt, die hier leben. Die Stadtverwaltung hält ganz bewusst Informationen über die Verteilung der Haushaltsmittel zurück. Zum Beispiel warum es vor drei Jahren noch zwei Polykliniken im Bezirk gab und heute nur noch eine. Über die Hintergründe soll die Bevölkerung nichts wissen. Mein Anliegen ist genau das Gegenteil, nämlich diese publik zu machen.

Ist der Status eines Bezirksabgeordneten dabei hilfreich?

Durchaus. Читать далее

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»Nachfragen zur Judenermordung sind nicht erwünscht«

Der Publizist Evaldas Balčiūnas im Gespräch über den Holocaust und die staatliche Erinnerungspolitik in Litauen.


Evaldas Balčiūnas. Foto uw

Mitte Mai verurteilte ein Gericht in Klaipėda den lokalen Vorsitzenden der Partei Union litauischer Russen, Wjatscheslaw Titow, zu einer Geldstrafe von 12.000 Euro. Er soll das Andenken eines Toten verunglimpft, zum Hass angestachelt und außerdem Verbrechen der Sowjetunion gegen Litauen geleugnet oder falsch dargestellt haben. Worum ging es dabei genau?

Titow hatte sich als Abgeordneter des Stadtrats gegen Pläne ausgesprochen, Adolfas Ramanauskas, bekannt auch als Vanagas, einen der Anführer des anti­sowjetischen Widerstands in Litauen, in der Stadt mit einem Denkmal zu würdigen. Ramanauskas, der 1957 in der Sowjetunion hingerichtet wurde, hat­te den Tod von mehreren Hundert Men­schen zu verantworten. Titow nannte mit Bezug auf sowjetische Ermittlungsakten die Zahl 8 000. Daraufhin kam es zur Anzeige gegen Titow. Vor Gericht wurde gegen ihn unter anderem der Vorwurf der Verleumdung erhoben. Formal war das aber gar nicht Gegenstand der Verhandlung, auch wollte sich das Gericht nicht mit den historischen Gründen für die Kritik an einer Gedenktafel für den Täter Ramanauskas befassen. Die Tafel hängt inzwischen am Gebäude der Universität.

Kann man das als typischen Umgang mit Kritik an der staatlichen Erinnerungspolitik bezeichnen?

Es handelt sich um eine weitere Zuspit­zung der gängigen Praxis, eine Form der Zensur. Читать далее

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