Nach der Unabhängigkeit des Kosovo nähert sich Russland kaukasischen Separatisten an. Doch die russische Regierung fürchtet auch eine Destabilisierung der Region.
Ein Sonderfall und keineswegs eine Modelllösung für andere Konflikte soll die Unabhängigkeit des Kosovo nach Ansicht ihrer westlichen Unterstützer sein. Doch die Separatisten im Kaukasus sehen das anders. Anfang der neunziger Jahre, als Jugoslawien zerfiel, begannen auch in dieser Region bewaffnete Konflikte. Nur wenige Monate nach der Eskalation in Bosnien marschierten georgische Truppen im August 1992 in Abchasien ein und stießen dort auf erbitterten Widerstand. 3 000 Menschen verloren während der 14 Monate andauernden Kämpfe ihr Leben. Besiegt wurden die Separatisten nicht. Abchasien ist de facto unabhängig und fordert, wie auch Südossetien und Transnistrien, seit Jahren die Anerkennung als eigenständiger Staat. Bislang allerdings vergeblich.
Die Haltung des Westens gegenüber den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken hat dort eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Mit der Anerkennung des Kosovo als unabhängigem Staat setzt der Westen Russland, das die Unabhängigkeit lehnt, unter Druck. Die russische Regierung befindet sich in einer prekären Lage. Einerseits wird eine Annäherung an kaukasische Separatisten als notwendig betrachtet, um den weltpolitischen Einfluss Russlands zu demonstrieren, andererseits kann jedes unvorsichtige Handeln zu einer Destabilisierung in der Region führen, und eine offizielle Anerkennung abtrünniger Republiken würde die Beziehungen zur EU und zu den USA verschlechtern.
Auch innerhalb der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (Gus) dürfte Russland mit einem solchen Vorhaben auf wenig Zustimmung treffen, denn in ehemaligen Sowjetrepubliken wie Aserbaidschan, Kasachstan oder der Ukraine könnten schwelende Konflikte wieder ausbrechen, beispielsweise auf der Krim, deren tatarische Bevölkerung auf voller Autonomie von der Zentralregierung in Kiew besteht.
Anfang März kündigte Russland ein Abkommen der Gus von 1996 auf, das die Unterzeichnerstaaten dazu verpflichtet, keine wirtschaftlichen Beziehungen mit Abchasien zu unterhalten. Nach Ansicht des russischen Außenministeriums komme die Republik ihren Verpflichtungen in Hinblick auf die Beilegung des Konflikts in vollem Umfang nach, Sanktionen seien daher nicht mehr angebracht.
Die georgische Regierung will nun eine Klage gegen Russland beim Europäischen Gerichtshof einreichen und behauptet, durch die russische Intervention seien Verluste von 20 Milliarden Dollar entstanden. Russland wird vorgeworfen, Voraussetzungen für eine dauerhafte militärische Präsenz schaffen zu wollen. Der georgische Minister für Reintegration, Temuri Iakobaschwili, bezeichnete Russlands Alleingang als »ökonomische Annexion«.
Die russische Duma diskutierte Mitte vergangener Woche im Beisein von Parlamentariern aus Abchasien, Südossetien und Transnistrien über das weitere Vorgehen. Im Anschluss gab der Vorsitzende des Duma-Ausschusses für die Angelegenheiten der Gus, Aleksej Ostrowskij, bekannt, dass sein Ausschuss eine Empfehlung hinsichtlich einer grundlegenden Veränderung der Haltung Russlands gegenüber den bislang nicht anerkannten Republiken aussprechen werde. Dazu gehören zollfreier Warenverkehr und die Eröffnung diplomatischer Vertretungen in den drei Republiken. »Russland kann nicht unbeteiligt bleiben«, erklärte er angesichts des »hartnäckigen Strebens der Führung Georgiens, das Problem der nicht anerkannten Gebiete mit Gewalt zu lösen«.
Allerdings sind die Interessen der Unabhängigkeit fordernden Kleinstrepubliken durchaus unterschiedlich. Das formal Georgien zugehörige Südossetien beispielsweise strebt in erster Linie die Vereinigung mit dem zu Russland gehörenden Nordossetien an. Die Forderung nach Unabhängigkeit ist hier eher Mittel zum Zweck. Anders in Abchasien, dort steht eine Unabhängigkeit, die eine enge Partnerschaft zu Russland einschließt, zur Debatte. Die russische Regierung verstärkt aktiv die Bande zu Abchasien. So besitzen beispielsweise über 80 Prozent der Bevölkerung Abchasiens die russische Staatsbürgerschaft, in Südossetien sind es etwa 90 Prozent.
Nach der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo ist die relative Stabilität, die für Russland letztlich von Nutzen war, gefährdet. Ob in Zukunft separatistische Tendenzen in den zu Russland gehörenden Kleinrepubliken im Nordkaukasus zunehmen werden, hängt auch davon ab, ob Russland und Georgien eine für beide Seiten annehmbare Kompromisslösung finden.
Ernsthafte separatistische Bestrebungen existieren allerdings derzeit nicht. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als die gesamte Region wirtschaftlich von der Zugehörigkeit zu Russland profitiert. Zum einen erhalten die Teilrepubliken von Russland unentbehrliche finanzielle Zuschüsse, zum anderen steht ihren Bewohnern der russische Arbeitsmarkt offen.
Auch für Tschetschenien trifft dies zu, doch bildet die lange Zeit als Inbegriff des bewaffneten Widerstands gegen die Moskauer Zentralmacht geltende Republik in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall. Hier hatte sich in den neunziger Jahren, im Unterschied zu den umliegenden Regionen, eine äußerst schlagkräftige separatistische Bewegung gebildet. Nach einer Reihe militärischer Niederlagen gegen die russischen Truppen und der Integration eines Großteils der ehemaligen Bojewiki (Kämpfer) in das autoritäre Herrschaftssystem des zum Präsidenten Tschetscheniens ernannten ehemaligen Warlords Ramsan Kadyrow wurde der Separatismus jedoch zurückgedrängt. In den Bergen kommt es hingegen weiterhin zu Kämpfen zwischen russischen und tschetschenischen Militäreinheiten.
Offiziell jedenfalls gehört das Projekt eines unabhängigen tschetschenischen Staats bis auf weiteres der Vergangenheit an. Am 7. Oktober 2007 rief Doku Umarow, Anführer der tschetschenischen Untergrundbewegung und bis dahin Präsident des Itschkeria, wie Tschetschenien von den Separatisten genannt wird, die »Kaukasischen Emirate« aus und ernannte sich selbst zu deren Emir. Die Unterteilungen des Kaukasus erklärte er für aufgehoben. Der vormalig in erster Linie auf einem national-ethnischen Konzept beruhende Separatismus wurde zu einer republikübergreifenden islamistischen Bewegung.
Dass die Islamisten durchaus regen Zulauf erhalten, liegt oft schlicht an Rachegelüsten wegen jahrelanger Demütigungen und brutaler Gewalt seitens der Sicherheitsorgane, vor allem gegenüber jungen Männern im Rahmen der »Terrorismusbekämpfung«. In Dagestan werden bereits seit Jahren immer wieder verantwortliche Angehörige des Polizeiapparates ermordet. In Inguschetien, wo in den vergangenen Jahren Hunderte von Menschen entführt und getötet wurden, entwickelte sich eine nach den Prinzipien der Stadtguerilla operierende Bewegung. Gleichzeitig bildete sich dort eine politische Opposition gegen den ebenfalls von der russischen Regierung eingesetzten Präsidenten.
Tschetschenien gilt gemeinhin als befriedet. Tatsächlich schert sich die russische Regierung kaum darum, was in der Republik vor sich geht. Die kriegsmüde Bevölkerung sieht derzeit keine Alternative in der Loslösung von Russland. Kadyrow handelt allerdings weitestgehend unabhängig und nicht immer im Einklang mit den Interessen der Zentralregierung. Er vergrößert seine Macht und versucht, selbst außenpolitische Souveränität geltend zu machen. Das letzte Wort in Hinblick auf den tschetschenischen Separatismus ist daher wohl noch nicht gesprochen.
Ute Weinmann