Obwohl immer wieder von tschetschenischen Staatsorganen begangene Gewalttaten bekannt werden, genießt die Regierung Handlungsfreiheit.
Wer am 27. Februar 2015 unweit der Kremlmauer die tödlichen Schüsse auf Boris Nemzow abgegeben hat, ist seit vergangener Woche gerichtlich festgestellt: Saur Dadajew wurde zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt, vier weitere Angeklagte erhielten Haftstrafen zwischen elf und 19 Jahren. Dass die Spur nach Tschetschenien führt, fanden die Ermittler schnell heraus, und auch die nun verurteilten Verdächtigen waren wenige Tage nach der Tat gefasst. Allerdings beschränkte sich die Aufmerksamkeit von Staatsanwaltschaft und Gericht bis zum Schluss auf diesen engen Personenkreis. Lediglich die Tochter des ermordeten Oppositionspolitikers, Zhanna Nemzowa, beharrte auf einer vollständigen Rekonstruktion der Ereignisse mitsamt der Aufdeckung der Auftraggeber.
Das erwies sich allerdings als unvereinbar mit der Aufgabe der zuständigen Behörden. Oder es scheiterte am Unwillen der russischen Regierung, Zusammenhänge offenzulegen, die zeigen würden, dass jegliche widerständige politische Aktivität in Russland zu einem lebensgefährlichen Unternehmen ausarten kann. Zumal dann, wenn Interessen der tschetschenischen Regierung im Spiel sind. Die Umstände, die zum Mord an Nemzow geführt haben, hätte Ruslan Geremejew erhellen können, der unmittelbare Vorgesetzte des Mörders. In der Moskauer Wohnung Geremejews, eines Majors der russischen Nationalgarde, waren die Verurteilten vor der Tat untergebracht. Geremejew flog nach dem Mord gemeinsam mit Dadajew nach Grosny und war danach für eine Befragung nicht mehr zu erreichen. Er habe die Tür nicht geöffnet, so ein Ermittler vor Gericht. Dazu wollten ihn die Ermittler trotz mehrmaliger Aufforderung durch die Staatsanwaltschaft nicht zwingen. Wohl nicht zufällig, denn Geremejew und Dadajew dienten im tschetschenischen Bataillon »Nord« unter dem Kommando von Alibek Delimchanow, dessen Bruder Adam nicht nur über ein Duma-Mandat verfügt, sondern auch als einer der wichtigsten Männer des Regimes in Tschetschenien gilt.
Nach der im Frühjahr bekannt gewordenen Verfolgung und Folterung Homosexueller sorgt die Nordkaukasus-Republik zum wiederholten Mal für hässliche Schlagzeilen. Allerdings kamen die im Anschluss an die Enthüllungen initiierten Nachforschungen nach der Versetzung des bis dahin mit der Sache beauftragten leitenden Ermittlers Igor Sobol ins Stocken; die erhoffte behördliche Aufdeckung systematisch angewendeter Gewalt in Tschetschenien blieb aus.
Um den Aufklärungsdruck zu erhöhen, veröffentlichte die russische Zeitung Nowaja Gaseta jüngst Hinweise auf außergerichtliche Hinrichtungen. In der Nacht auf den 26. Januar sollen in Grosny über zwei Dutzend junge Männer erschossen worden sein. 27 Namen, Geburtsdaten und Adressen lagen der Veröffentlichung bei, aber die Todesliste umfasst angeblich noch weitere Personen. Sie alle gehören zu etwa 200 in verschiedenen Regionen Tschetscheniens Festgenommenen, denen illegaler Waffenbesitz und Bandenmitgliedschaft vorgeworfen werden. Als Anlass für die Verhaftungen diente eine Schießerei mit der Polizei in Grosny am späten Abend des 17. Dezember vergangenen Jahres. Ein Polizist kam dabei ums Leben, die Angreifer, darunter auch drei bereits in Gewahrsam genommene, wurden einen oder zwei Tage später ebenfalls erschossen.
Die Recherchen der Nowaja Gaseta ergaben, dass sich in etlichen Fällen erst Wochen nach der Festnahme Angaben über die Betroffenen in den Unterlagen der Polizei finden lassen. In der Zwischenzeit, so die These, wurden sie zu den Schuldeingeständnissen gezwungen, die in den Ermittlungsakten genannt werden. Häufig fußen Gerichtsurteile allein auf solch zweifelhaften Aussagen, ohne dass andere Beweismittel herangezogen werden. Die akribische Suche nach dem Verbleib jener 27 Männer löste bei vielen befragten Personen Angst und Schrecken aus. Ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung in Schali, wo die größte Anzahl an Festnahmen erfolgt war, riet von weiteren Nachforschungen ab: Alle seien längst tot. Dennoch gelang es unter anderem mit Hilfe eines Verwandten eines der Opfer, einem einflussreichen tschetschenischen Beamten, festzustellen, dass die Männer in Grosny auf dem Gelände des Streifendiensts der Polizei festgehalten, vermutlich dort erschossen und ihre Leichen später auf verschiedenen Friedhöfen verscharrt worden waren. Es habe sich um eine spontan getroffene Entscheidung gehandelt, vermutet die Nowaja Gaseta, wobei sich hochrangige Vertreter der Sicherheitsdienste an Ort und Stelle aufgehalten haben sollen.
Angesichts solcher Bedingungen tun sich auch Menschenrechtsorganisationen immer schwerer damit, Beweise für den staatlich sanktionierten Terror in Tschetschenien zu liefern. Dementsprechend zurückhaltend äußert sich die Nowaja Gaseta im vorliegenden Fall, fordert jedoch strafrechtliche Ermittlungen. Die Reaktionen darauf fielen voraussehbar aus. Man habe, so der russische Regierungssprecher Dmitrij Peskow, die Angaben zur Kenntnis genommen. Aus Tschetschenien war ein wesentlich härterer Tonfall zu vernehmen. Informationsminister Dzhambulat Umarow sprach von einer »Lüge« und diagnostizierte der Verfasserin des Artikels, Jelena Milaschina, einen »Ausbruch kranker Phantasie«, deren eigentliches Ziel die Wiederbelebung jenes längst vergessenen Themas sei. Gemeint ist die Verfolgung Homosexueller in der Republik. Etwa derselben Argumentation bediente sich der tschetschenische Journalistenverband, der einen politischen Auftrag westlicher Sponsoren hinter den angeblichen Diffamierungen vermutet.
Präsident Ramsan Kadyrow veröffentlichte auf einem seiner Internetkanäle termingerecht nach Bekanntwerden der außergerichtlichen Hinrichtungen einen Loyalitätsbeweis: Russlands Feinde warteten nur auf den Zerfall des Landes. Die tschetschenische Regierung darf auf Kosten des russischen Staatshaushalts nach Belieben schalten und walten, solange sie die staatliche Integrität Russlands an der Südflanke garantiert. Vor diesem Hintergrund wirkt das Moskauer Urteil gegen Nemzows Mörder bestenfalls als Schadensbegrenzung für das Image der russischen Regierung. Neue Erkenntnisse brachte der Prozess jedenfalls nicht.
ute weinmann