Täglich versuchen aus Belarus kommende tschetschenische Flüchtlinge, in Polen einen Asylantrag zu stellen. Den meisten wird dies verweigert.
Brest zur Mittagszeit. Vor wenigen Minuten ist der Vorortzug aus dem polnischen Terespol in den eindrucksvollen Bahnhof eingefahren. In der Empfangshalle herrscht eine nervöse Stimmung. Gleich werden die ersten Reisenden durch die Türen strömen, nachdem sie die belorussische Pass- und Zollkontrolle durchlaufen haben. Hier hegt niemand Vorfreude darauf, bekannte Gesichter zu sehen. Im Gegenteil, je weniger Menschen nach Brest zurückkommen, desto besser. Denn der Großteil der Passagiere ist um 8 Uhr 45 morgens mit dem Zug Richtung Polen aufgebrochen, um dort eine sichere Bleibe zu finden.
Für viele Flüchtlinge nur eine Durchgangsstation. Das Bahnhofsgebäude im belorussischen Brest (Foto: Ute Weinmann)
Es sind hauptsächlich tschetschenische Flüchtlinge, die in Brest gestrandet sind und teilweise bereits seit Monaten versuchen, von der Grenzstadt aus weiterzukommen. Die Türen öffnen sich und die ersten enttäuschten Mienen zeugen von einer Niederlage, wie jeden Tag. Hektisch stellen einige Frauen, mit Röcken und Kopftüchern bekleidet, die zentrale Frage, die hier alle beschäftigt: »Wie viele sind heute durchgekommen?« Die ersten Rückkehrer wissen darauf nichts zu sagen, aber eine junge, schmal gebaute Frau, mit einem Säugling in einer Babytragetasche, kennt die wenig tröstliche Antwort.
Nur eine einzige Familie habe an diesem Tag »im russischen Roulette gewonnen«, wie es später jemand ausdrückt. Aber es ist Roulette nach polnischen Regeln. Manchmal dürfen zwei, in Ausnahmefällen sogar drei Familien einen Asylantrag stellen, heute aber gelang dies nur einer einzigen fünfköpfigen tschetschenischen Familie in Terespol, nach vier vorangegangenen gescheiterten Versuchen. Erkennbare Muster, anhand derer kalkulierbar wäre, in welchen Fällen das Zauberwort Asyl die polnischen Grenzbeamten dazu veranlasst, die von Rechts wegen vorgesehenen Schritte einzuleiten, existieren nicht.
Alle anderen – Dutzende, manchmal sind es Hunderte von Tschetschenen, seltener Inguschen oder auch Georgier auf der Flucht – wurden von den polnischen Grenzbeamten routiniert abgewiesen und in den Zug zurück nach Brest verfrachtet. Die einen haben nur fünf oder sieben Versuche hinter sich, andere bereits 40, 50 oder über 70. Der Rekord liegt bei 91 Versuchen, wobei jede Fahrt pro Person ab vier Jahren hin und zurück neun Euro kostet. Anfangs begnügte sich die belorussische Eisenbahn mit dem Verkauf von Einfachtickets nach Terespol, aber da schließlich inzwischen jede Ticketverkäuferin weiß, dass fast alle Tschetschenen unfreiwillig im gleichen Zug die Rückfahrt antreten, müssen sie inzwischen auch für diese Kosten aufkommen. Diese belaufen sich, da es hier keine Alleinreisenden gibt, sondern nur Großfamilien, schnell auf bis zu 100 Euro.
Madina* und ihre etwa 16 Jahre alte Tochter sind erst seit zwei Wochen in Brest und dreimal am Grenzübertritt gescheitert. Die Großmutter liegt in einem gemieteten Zimmer, ihrem provisorischen Zuhause, krank im Bett. Erst wenn es ihre Gesundheit wieder erlaubt, können die Frauen erneut nach Terespol aufbrechen. Die Tochter spricht fast kein Russisch, dafür hervorragend Deutsch, das hat sie in der Schule gelernt. Sie versucht, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen, Madina aber ist mit ihren Nerven am Ende. Mit jedem Tag sinkt ihre Hoffnung, einen Asylantrag stellen zu können, und nach dem Erhalt der schlechten Nachricht vom Mittag verlassen die beiden fluchtartig das Bahnhofsgebäude.
Patimat hat erst vier Versuche unternommen, obwohl sie schon seit Anfang August mit ihrer Familie in Brest ist. Aber ihr fehlen selbst die Mittel für die Zimmermiete, weshalb sie mit etwa 40 anderen, überwiegend Frauen und Kindern, in der großen zugigen Wartehalle des Bahnhofs haust. Patimat redet sich in Rage, irgendwann kann sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihr Mann tritt an sie heran, fragt was los sei, und mahnt: »Du musst Freude ausstrahlen!« Er schüttelt vorwurfsvoll den Kopf und verschwindet in Richtung Ausgang. Einen Weg zurück nach Russland gibt es für ihn aber nicht. Die Vasallen des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow hätten ihn dazu gedrängt, im Donbass für die russische Sache zu kämpfen, doch das komme für ihn nicht in Frage. Ungestraft darf sich aber niemand einer solchen Aufforderung entziehen, deshalb hat Patimats Mann nicht vor aufzugeben.
Wann genau die Anzahl tschetschenischer Flüchtlinge in Brest in die Höhe geschnellt ist, weiß hier niemand mehr so genau. Auch nicht, ob es 1 000 oder 3 000 sind, aber viele erinnern sich an die Proteste von Ende August. Patimat gehörte zu den Initiatorinnen einer Kundgebung direkt an der Grenze, auch ein Zeltlager wollten sie errichten. Dieser Verzweiflungsakt hat sie ihrem Ziel keinen Schritt nähergebracht, doch nach zahlreichen Beiträgen in Lokalmedien und in einigen polnischen Zeitungen wurden politisch engagierte junge Menschen im 350 Kilometer entfernten Minsk auf sie aufmerksam und versuchen seither, die Flüchtlinge tatkräftig zu unterstützen. »Wir haben uns anfangs darauf eingestellt, innerhalb von einer Woche die Situation verändern zu können«, sagt Viachaslau Panasiuk, der vorerst in Brest geblieben ist. Zeit dafür hat er, auch Erfahrung im Umgang mit Behörden und dem Polizeiapparat. Seine rege Tätigkeit als Berater in studentischen Angelegenheiten hat ihn seinen Chemiestudienplatz gekostet, in Belarus bleibt ihm somit ein Hochschulabschluss verwehrt.
Auch mit den polnischen Grenzern legt er sich gerne an, die ihm im Gegenzug damit drohen, sein Schengen-Visum zu annullieren. Die Idee der Freiwilligen der Gruppe Human Constanta aus Minsk bestand darin, Flüchtlinge über die Grenze zu begleiten und ihre Interessen zu vertreten. Dafür ließen sie sich entsprechende Vollmachten ausstellen, die an der polnischen Grenze prompt für Verärgerung sorgten. Die Uniformierten handelten, so Viachaslau, auf Befehl von oben und seien wegen verdeckter Namens- und Nummernschilder nicht zu identifizieren. Sie bleiben lieber unter sich, ohne Beobachtung durch gutinformierte junge Leute, die sich nicht so einfach abspeisen lassen und zudem auch noch der polnischen Sprache mächtig sind.
Denn die polnischen Grenzer wenden eine bürokratische Finte an, um die Tschetschenen schnellstens wieder loszuwerden. Die Flüchtlinge bekommen auf ihr mündliches Asylersuchen hin ein polnisches Formular ohne Übersetzung vorgelegt und werden aufgefordert, ihre Unterschrift darunter zu setzen. Damit erklären sie sich jedoch bereit, ohne es zu wissen, aus freien Stücken auf einen Asylantrag zu verzichten. Inzwischen verweigern viele ihre Unterschrift, aber sie dürfen trotzdem nicht nach Polen einreisen. Zutritt gibt es nur bei Vorlage eines gültigen Visums, und wer kein Visum im Pass vorweisen kann, bekommt einen Stempel. Den setzen die polnischen Grenzhüter wenig platzsparend, meistens zwei pro Seite.
Neben dem ohnehin demütigenden formalen Prozedere sehen sich die Flüchtlinge außerdem mit verbalen Ausfällen konfrontiert: »Warum fahrt ihr nicht nach China?« »Ihr dürft nicht mit einem Kopftuch bedeckt zu uns kommen!« »Unseren Sonntag ehrt ihr nicht!« Während die Männer etwas Abstand halten, empören sich viele der auf dem Bahnhof versammelten Frauen über den groben Umgang an der polnischen Grenze. Viachaslau erzählt später bei einem Kaffee im stilvollen, aber billigen Bahnhofsrestaurant von diversen Handgreiflichkeiten. Es komme vor, dass Uniformierte tschetschenische Frauen anfassten, was deren männliche Verwandte dazu bringe, schon mal mit der Faust auf die Beamten losgehen. Einmal habe dies zu einem zweiwöchigen Dienstausfall eines Grenzbeamten geführt. Trotz dessen Gesichtsverletzungen habe aber offenbar kein Grenzer daran gedacht, die Polizei zu rufen und Anzeige gegen die betreffenden Tschetschenen zu erstatten, so Viachaslau. Womöglich, so seine Vermutung, könnte die Polizei bei einem direkten Kontakt mit Flüchtlingen einem Asylverfahren zustimmen. Vielleicht will man in der Kleinstadt Terespol aber einfach keinen Ärger und zieht es vor, den Schauplatz des jeden Morgen wiederkehrenden Flüchtlingsdramas auf das für Außenstehende verschlossene Grenzgebäude zu beschränken.
Unterstützt als Freiwilliger Flüchtlinge. Viachaslau Panasiuk im Bahnhofsrestaurant (Foto: Ute Weinmann)
Polens Innenminister Mariusz Błaszczak hat die Linie vorgegeben. Er lasse keine Islamisten einreisen und außerdem herrsche in Tschetschenien kein Krieg. Vor wenigen Jahren lagen die polnischen Prioritäten noch anders: Asylverfahren für tschetschenische Flüchtlinge dienten als willkommener Anlass, um Russland zu verärgern. Inzwischen hat auch eine politische Annäherung an Belarus stattgefunden. Dort fühlt sich niemand für die Flüchtlinge zuständig, nicht einmal das Rote Kreuz, das sich nahe des Bahnhofs befindet. Die belorussischen Grenzbeamten in Brest lassen jeden ausreisen, der über einen gültigen Reisepass verfügt. Wer will, darf die Passkontrolle täglich durchlaufen. Auch die Polizei in Brest legt anscheinend nur ein recht geringes Interesse an den Flüchtlingen an den Tag und kontrolliert lediglich, ob sich die Tschetschenen an die Aufenthaltsfristen halten.
Muslim, 44 Jahre alt, stammt aus Inguschetien und hat acht Kinder, die auf Kommando alle hinter ihm in einer Reihe herlaufen. Wie um seine Existenz unter Beweis zu stellen, beharrt er darauf, erst seinen Pass, dann den seiner Frau zu zeigen. Sie sind voller Stempel, die von missglückten Versuchen zeugen, nach Polen zu gelangen. Vor vier Jahren sei ein Freund ermordet worden, im Januar sein Cousin, sagt Muslim. Die Zeit drängt, es bleiben ihm nur zwei Tage, bis seine Aufenthaltsfrist in Belarus abläuft. 90 Tage dürfen sich russische Staatsbürger im Nachbarland aufhalten, dann müssen sie ausreisen, und zwar für längere Zeit. Heute hat Muslim mit seiner Familie den zweiten Versuch unternommen, mit dem Bus in die Ukraine einzureisen – ohne Erfolg. Dabei hatte er sich dieses Mal eine Einladung besorgt, ohne die russische Staatsangehörige bis zum Rentenalter an der ukrainischen Grenze sofort abgewiesen werden. Jetzt muss eine andere Lösung her, egal welche. Ein Zurück gibt es nicht.
Wirtschaftsflüchtlinge seien sie – das bekommen Tschetschenen oft zu hören. Dabei hat die lokale Bevölkerung bereits gelernt, von der neuen Flüchtlingsökonomie zu profitieren. Tschetschenen zahlen 15 Euro pro Tag für ein Zimmer, nehmen Fahrdienste in Anspruch, kaufen Lebensmittel, zahlen Arztrechnungen. Viele haben ihre Häuser in Tschetschenien verkauft, einige berichten davon, dass ihre Häuser in Brand gesetzt worden sind. Die Geschichten ähneln sich. Sie fliehen aus Furcht vor Vergeltung, weil Verwandte gefoltert und getötet worden sind, weil sie dem Verdacht ausgesetzt sind, islamistischen Kämpfern Proviant übergeben oder früher selbst für ein unabhängiges Tschetschenien gekämpft zu haben, weil sie den Führungsstil des Präsidenten Kadyrow nicht hinnehmen wollten. Es gibt viele gute Gründe, die tschetschenische Republik zu verlassen, aber nur wenige Möglichkeiten für einen Neuanfang.
Samstag früh im Zug nach Terespol. In den vorderen Waggons sitzen Passagiere, die mit Visum oder EU-Pass nach Polen fahren, in den hinteren ausschließlich Tschetschenen. So sieht es die Anweisung zur Sitzverteilung der belorussischen Eisenbahn vor. Islam, Mitte 50, groß und stattlich, erweckt den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Seine Frau berichtet, er sei zwei Tage lang gefoltert worden. Islam holt Fotos aus der Tasche, die das belegen sollen. Die Folter liege schon einige Jahre zurück, aber dann habe er weitere unmissverständliche Drohungen erhalten, sagt er. Ihm wäre es lieber, sie würden ihn gleich erschießen. »Sie lassen uns nicht leben, aber auch nicht in Ruhe sterben«, sagt er resigniert. Seiner Familie kann er keine Sicherheit mehr bieten, nicht in Tschetschenien und auch nicht in anderen Teilen Russlands. Er wählte den Fluchtweg, der am ehesten Perspektiven versprach, dabei weiß er nach etlichen Fehlversuchen nur allzu gut, was ihn gleich erwartet. Jedes Gespräch nimmt irgendwann die immer gleiche Wendung. Dann wird klar, dass sich die Flüchtlinge in einem Informationsvakuum befinden, nicht verstehen, warum sie nicht durchgelassen werden und warum sich niemand für ihr Schicksal interessiert. Was sie denn tun können, wollen alle wissen.
Es dauert lange, bis endlich die Aufforderung kommt, den hinteren Zugteil zu verlassen und sich zur Grenzkontrolle zu begeben. Die polnischen Grenzer sorgen dafür, dass jede tschetschenische Familie gemeinsam zur Passkontrolle geht. Als der Beamte einen deutschen Pass entdeckt, verliert er die Fassung. Mit einem Kollegen versucht er, herauszufinden, was hier vor sich geht, sie wollen keine Beobachter hier. Wer es dennoch mit den Flüchtlingen bis hierher geschafft hat, wird nach einer Befragung durch einen Seitenausgang auf die Straße befördert. Bis zur Abfahrt des Zuges nach Brest müssen die regulären Passagiere draußen bleiben, damit sie nicht sehen, wie die Tschetschenen drinnen abgefertigt werden. Aber außer einem Trinker aus Dagestan, der mit einer fast leeren Whiskyflasche anstoßen will, zeigen die Passagiere ohnehin Desinteresse.
Auf dem Rückweg nach Brest haben sich die polnischen Grenzbeamten immer noch nicht beruhigt und stellen erbost Nachfragen. Auf dem Bahnsteig winkt ein junger Tschetschene zu sich in den Einstiegsraum des Waggons. Isa hat gerade seinen 35. Versuch hinter sich und will sichergehen, dass sein Gesicht auf keinem Foto abgebildet ist. Niemand hier will fotografiert werden, alle haben Angst, in Tschetschenien könnte jemand ihren Aufenthaltsort feststellen. Sie werden vom tschetschenischen Präsidenten Kadyrow als Drogenabhängige diffamiert. Isa spricht über Kadyrow abfällig, fast schon verachtend. »Gibt es Gerechtigkeit?« Er glaube nicht mehr daran. »In Tschetschenien bist du entweder Teil des Systems und wirst zum Mörder oder du bist verloren«, sagt Isa. Wäre er ohne seine Familie hier, würde er sich von den Grenzern nichts gefallen lassen.
In Brest wartet wieder eine Menschentraube auf schlechte Nachrichten. Heute haben die Polen zwei Familien durchgelassen. Auf die Reaktion der Grenzer angesprochen, äußert Viachaslau die Vermutung, dass die Beschwerden der Freiwilligen gegen das Vorgehen an der Grenze erste Früchte tragen. Er und seine Mitstreiter wollen vor Gericht ziehen und stellen sich auf einen langfristigen Aufenthalt in Brest ein. Die Flüchtlinge sehen für sich ohnehin keine andere Wahl.
* Die Namen der Geflüchteten wurden geändert.
ute weinmann